»Das weiß der Herr Jesus auch, Topsy; er hat Mitleid mit dir; er wird dir helfen.«
Das Gesicht hinter der Schürze verborgen, wurde Topsy still von Miß Ophelia hinausgeleitet, noch im Gehen steckte sie die Locke in ihren Kleiderausschnitt.
Als alle draußen waren, schloß Miß Ophelia die Tür. Die würdige Dame hatte während dieser Szene manche heimliche Träne vergossen, aber die Sorge um die kleine Kranke verdrängte alle Rührung.
St. Clare hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Er saß noch immer auf seinem Stuhl und hielt die Hand vor die Augen.
»Papa!« sagte Eva und legte sanft ihre Hand auf die seine.
Er fuhr jäh zusammen, ein Schauder packte ihn, aber er antwortete nicht. »Lieber Papa!« sagte Eva.
»Ich kann es nicht!« sagte St. Clare und erhob sich. »Ich kann es nicht hinnehmen! Der Allmächtige geht hart mit mir ins Gericht!« In großer Bitterkeit stieß St. Clare diese Worte hervor.
»Augustin! Hat Gott kein Recht, nach seinem Willen mit dem zu verfahren, was ihm gehört?« sagte Miß Ophelia.
»Vielleicht; aber dadurch läßt es sich nicht leichter tragen«, sagte er in einem trockenen, harten, tränenlosen Ton, als er sich abwandte.
»Papa, du brichst mir das Herz!« sagte Eva, richtete sich auf und warf sich in seine Arme; »du mußt nicht so empfinden!« Das Kind schluchzte so heftig, daß alle sich beunruhigten und die Gedanken ihres Vaters sofort abgelenkt wurden.
»Komm, Eva, mein Herzblatt, sei ruhig! Es war verkehrt von mir, ich war im Unrecht. Ich will ja alles tragen — gräm dich doch nicht; hör auf mit Weinen! Ich will mich ja fügen; ich will nie wieder so reden.«
Wie eine verirrte Taube lag sie in den Armen ihres Vaters, und er, über sie geneigt, suchte sie mit jedem Wort, das ihm einfiel, zu trösten und zu beruhigen.
Marie erhob sich und rauschte in ihr eigenes Zimmer, wo sie einen heftigen hysterischen Anfall bekam.
»Mir hast du keine Locke gegeben, Eva«, sagte ihr Vater und lächelte traurig.
»Sie gehören dir alle, Papa«, sagte sie lächelnd - »dir und Mama, und Tantchen mußt du auch welche geben. Nur unseren Leuten hab ich sie selbst gegeben, weißt du, man könnte sie vergessen, wenn ich nicht mehr da bin, und sie sollten doch etwas zur Erinnerung erhalten, du bist doch ein Christ, nicht wahr, Papa?« fragte Eva zögernd.
»Warum fragst du, mein Liebling?«
»Ich weiß nicht. Du bist so gut, du mußt es doch sein!«
»Was heißt das, ein Christ sein, Eva?«
»Christus über alles zu lieben«, antwortete Eva.
»Tust du das?«
»Ja, gewiß.«
»Du hast ihn doch nie gesehen«, sagte St. Clare.
»Das macht nichts«, erwiderte Eva. »Ich glaube an ihn, und in wenigen Tagen werde ich ihn sehen«; und das junge Gesicht erglühte in strahlender Freude.
St. Clare sagte nichts mehr. Er kannte dieses Gefühl noch von seiner Mutter her; aber keine Saite seines Innern erklang dabei.
Eva siechte jetzt schnell dahin. Kein Zweifel konnte mehr an dem Ausgang bestehen. Auch die zärtlichste Hoffnung konnte nicht länger blind bleiben. Ihr schönes Zimmer wurde zur Krankenstube; und Miß Ophelia versah Tag und Nacht ihren Pflegedienst — nie wußten ihre Freunde sie mehr zu schätzen als in dieser Eigenschaft. Mit ihrer erfahrenen Hand, ihrer vollkommenen Übung und Geschicklichkeit, Behagen und Sauberkeit herzustellen, jeden unangenehmen Anblick der Krankheit zu entfernen — mit der absoluten Pünktlichkeit und ihrem klaren, überlegten Denken, womit sie die ärztlichen Vorschriften befolgte -, bedeutete sie ihnen alles. Alle, die über ihre kleinen Sonderheiten und Schrullen, die von der Leichtigkeit südlicher Manieren so merkwürdig abstachen, die Achseln gezuckt hatten, gaben jetzt zu, daß sie die einzige Person war, die hier am richtigen Platze stand.
Onkel Tom hielt sich häufig in Evas Zimmer auf. Das Kind litt an nervöser Unruhe, und es gab ihr eine Erleichterung, wenn man sie umhertrug. Für Tom war es das größte Entzücken, die zarte, kleine Gestalt auf einem Kissen im Zimmer auf und ab oder auf die Veranda hinaus auf den Armen zu tragen.
Wenn das Kind sich am Morgen noch wohl fühlte und der frische Wind vom See herüberwehte, trug er sie zuweilen unter die Orangenbäume im Garten oder saß mit ihr auf den alten Bänken und sang ihr ihre Lieblingschoräle.
Ihr Vater trug sie auch oft, aber er war nicht so kräftig gebaut, und wenn er dann müde wurde, sagte Eva:
»O Papa, laß doch Tom mich tragen. Es macht ihm Spaß, und du weißt doch, es ist alles, was er mir tun kann, und er will mir doch etwas Liebes erweisen.«
»Das will ich auch, Eva«, sagte ihr Vater.
»Ach, Papa, du kannst alles und bist mir alles. Du liest mir vor–du wachst bei mir in der Nacht — und Tom hat nur dies eine und das Singen; und ich weiß, ihm fällt es leicht, wenn er mich trägt.«
Aber nicht nur Tom wollte ihr Liebesdienste erweisen. Jeder Dienstbote war dazu bereit, und jeder tat, was er konnte.
Das Herz der armen Mammy verzehrte sich nach ihrem Liebling. Aber Tag und Nacht fand sie keine Gelegenheit, länger bei ihm zu sein, denn Marie erklärte, ihr Gemütszustand ließe sie nicht zur Ruhe kommen, und natürlich verstieß es gegen ihre Prinzipien, dann den andern Ruhe zu gönnen. Zwanzigmal in der Nacht mußte Mammy kommen und ihr die Füße reiben, ihre Stirn kühlen, ein Taschentuch suchen, nachsehen, was das Geräusch in Evas Zimmer bedeutete, einen Vorhang herablassen, weil es zu hell, oder ihn aufziehen, weil es zu dunkel war; und am Tage, wenn es Mammy trieb, wenigstens ein klein wenig an der Pflege ihres Herzenskindes teilzuhaben, schien Marie ungewöhnlich erfinderisch, sie im ganzen Haus treppauf, treppab zu schicken oder mit ihrer eigenen Person zu beschäftigen, so daß sie nur gelegentlich einen Blick oder eine kleine Begegnung erhaschen konnte.
»Ich halte es für meine Pflicht, jetzt besonders auf mich zu achten«, sagte Marie, »wo ich so schwach bin und dazu die ganze Sorge und Pflege um das geliebte Kind trage.«
»In der Tat, meine Liebe«, entgegnete St. Clare; »ich dächte, das nimmt dir unsere Kusine ab.«
»Du redest wie ein Mann, St. Clare — als ob eine Mutter sich jemals die Sorge um ein Kind in diesem Zustand abnehmen ließe; aber es ist ja gleich — niemand vermag zu ahnen, was ich fühle! Ich kann die Sache nicht so abschütteln wie du.«
St. Clare lächelte. Wir müssen ihm verzeihen, er konnte nicht anders — denn St. Clare vermochte ja noch zu lächeln. Denn so hell und leicht war die Abschiedsreise der jungen Seele, daß man vergaß: es war der Tod, der sich näherte. Das Kind litt keine Schmerzen — empfand nur eine ruhige, sanfte Schwäche, die täglich und fast unmerklich zunahm; und Eva war so schön, liebevoll, vertrauend und glücklich, daß man sich dem tröstlichen Einfluß der Unschuld und des Friedens nicht entziehen konnte, der von ihr auszugehen schien. St. Clare fühlte, wie ihn eine seltsame Ruhe überkam. Es war nicht Hoffnung — das war unmöglich; es war wie die Stille der Natur, die wir in den strahlenden Herbstwäldern verspüren, wenn die helle Röte in den Wipfeln flammt und letzte Blumen noch zögernd an der Quelle verweilen, dann genießen wir alles um so mehr, als wir wissen, daß bald alles vergeht.
Der Freund, der am besten Evas Vorstellungen und Vorahnungen kannte, war Tom, ihr treuer Träger. Ihm teilte sie mit, was sie ihrem Vater ersparen wollte, ihm erzählte sie die geheimnisvollen Offenbarungen, die der Seele widerfahren, bevor sie ihre irdische Hülle verläßt. Schließlich wollte Tom nicht mehr in seinem Stübchen schlafen, sondern lag die ganze Nacht draußen auf der Veranda, bereit, bei jedem Ruf sich zu erheben.
»Onkel Tom, was in aller Welt ist in dich gefahren, daß du dich wie ein Hund zusammenrollst?« sagte Miß Ophelia. »Ich dachte, du gehörst zu denen, die auf christliche Weise zu Bett gehen?«
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