»Du wirst zu mir kommen«, sagte das Kind im Ton ruhiger Gewißheit, den sie öfters ganz unbewußt anschlug.
»Ich werde dir folgen. Ich werde dich nie vergessen.«
Die Schatten des feierlichen Abends schlossen sie immer enger ein, während St. Clare auf der Veranda saß und die zerbrechliche kleine Gestalt an sein Herz gepreßt hielt. Er sah die lieben Augen nicht mehr, aber ihre Stimme ertönte wie eine Geisterstimme, und wie in einer Vision des Jüngsten Gerichts erstand in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit vor seinem inneren Auge — die Gebete — Choräle seiner Mutter — sein eigenes, frühes Streben und Trachten nach dem Guten, und von da an bis zu dieser Stunde Jahre weltlichen, skeptischen und, wie man so sagt, achtbaren Lebens. Als es dunkel wurde, trug er sein Kind nach oben, und als es zur Ruhe gebettet war, schickte er alle andern fort und wiegte es in seinen Armen, bis es eingeschlafen war.
24. Kapitel
Der kleine Evangelist
Es war an einem Sonntagnachmittag. St. Clare hatte sich auf einem Liegestuhl aus Bambusrohr ausgestreckt und rauchte genießerisch seine Zigarre. Marie lag hingegossen auf einem Sofa, das gegenüber dem geöffneten Verandafenster zum Schutz gegen die Moskitos dicht mit durchsichtigen Schleiern verhangen war; mit lässiger Hand hielt sie ein elegant gebundenes Gebetbuch. Sie tat das, weil es Sonntag war, und bildete sich ein, darin zu lesen — aber sie hatte es nur aufgeschlagen und war beständig darüber eingenickt.
Miß Ophelia hatte nach längerem Suchen in der Nähe einen kleinen Methodistengottesdienst ausfindig gemacht, an dem sie jetzt teilnahm, Tom hatte sie dorthin gefahren und Eva sie begleitet.
»Höre, Augustin«, sagte Marie, nachdem sie ein Weilchen geschlummert, »ich muß mir meinen alten Dr. Posey aus der Stadt kommen lassen; ich bin fest überzeugt, ich habe Herzbeschwerden.«
»Na schön; aber warum willst du nach ihm schicken? Der Doktor, der Eva betreut, scheint mir ganz erfahren zu sein.«
»Einen kritischen Fall würde ich ihm nicht anvertrauen«, sagte Marie; »und dahin scheint es bei mir zu kommen. Ich habe schon die letzten beiden Nächte darüber nachgedacht; ich habe so quälende Schmerzen und solch ein merkwürdiges Gefühl.«
»Oh, Marie, das ist doch blauer Dunst; an Herzbeschwerden glaube ich nicht.«
»Das kann ich mir denken«, entgegnete Marie; »ich habe es nicht anders erwartet. Wenn Eva nur hustet oder ihr eine Kleinigkeit fehlt, regst du dich sofort auf, um mich sorgst du dich nie.«
»Wenn dir Herzbeschwerden so verlockend erscheinen, nun gut, dann will ich mich bemühen, sie ernst zu nehmen«, sagte St. Clare.
»Hoffentlich wirst du es nicht einmal bereuen, wenn es zu spät ist!« erwiderte Marie; »aber du magst es glauben oder nicht, meine Sorgen um Eva und die anstrengende Pflege des lieben Kindes haben dieses Übel ausgelöst, das ich längst befürchtete.«
Worin diese Pflege bestand, auf die Marie sich berief, hätte sich nur schwer feststellen lassen. St. Clare behielt aber seine Meinung darüber für sich und rauchte weiter, bis der Wagen vor der Veranda vorfuhr. Eva und Miß Ophelia stiegen aus.
Bevor sie noch irgendein Wort äußerte, ging Miß Ophelia stracks auf ihr Zimmer, um Haube und Schal abzulegen; während Eva auf St. Clares Ruf herbeikam, sich auf seine Knie setzte und vom Gottesdienst berichtete.
Es dauerte nicht lange, da drangen laute Ausrufe der Entrüstung aus Miß Ophelias Zimmer (das auch auf die Veranda mündete), denen heftige Vorwürfe folgten.
»Welch neues Teufelswerk hat Topsy wieder ausgebrütet?« fragte St. Clare. »Ich wette, daß sie diese Stürme entfesselt hat.«
Und schon trat Miß Ophelia, bebend vor Entrüstung, heraus, die schwarze Sünderin hinter sich herziehend.
»Hier, komm heraus!« sagte sie. »Dies melde ich deinem Herrn.«
»Was ist geschehen?« fragte Augustin.
»Ich habe es satt mit diesem Kind, länger ertrag ich es nicht; alles in mir sträubt sich dagegen. Hier, ich schloß sie ein und gab ihr einen Choral zum Auswendiglernen, und was hat sie statt dessen getan? Ausspioniert, wo meine Schlüssel sind, meinen Schrank aufgeschlossen und einen Haubenputz in Stücke geschnitten, um Puppenkleider daraus anzufertigen. So etwas habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen!«
»Ich sagte Ihnen, Kusine«, erklärte Marie, »daß auch Sie die Erfahrung machen werden, daß man bei diesen Geschöpfen ohne Strenge nicht auskommt. Wenn es nach mir ginge«, sagte sie mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf St. Care, »dann würde ich das Kind jetzt hinausschicken und gründlich auspeitschen lassen, bis sie nicht mehr stehen kann.«
»Das glaube ich wohl«, antwortete St. Clare. »Man rede mir nicht von dem sanften Regiment der Frau! Ich habe kaum ein Dutzend Frauen gekannt, die nicht, wenn man ihnen den Willen ließ, ein Tier oder einen Dienstboten halb totschlagen ließen, von einem Mann ganz zu schweigen.«
»Dein Spott ist unangebracht«, sagte Marie, »die Kusine ist eine verständige Frau und sieht es jetzt genauso ein wie ich.«
Miß Ophelia war tief in ihrer Hausfrauenehre gekränkt worden. Die Zerstörungswut und Heimlichkeit ihres Zöglings hatten sie in höchsten Zorn versetzt, meine weiblichen Leser werden ihr das nachfühlen können; aber Maries Worte standen dazu in keinem Verhältnis, und deshalb ließ auch ihre Erregung nach.
»Um keinen Preis möchte ich das Kind so behandelt wissen«, sagte sie; »aber, Augustin, ich weiß mir keinen Rat mehr. Ich habe sie unermüdlich unterwiesen, ich habe mit ihr geredet, sie geschlagen, sie auf jede erdenkliche Art bestraft; und immer ist sie noch genauso wie am Anfang.«
»Komm einmal her, Topsy, du Affe!« sagte St. Clare und winkte dem Kind.
Topsy kam näher; ihre runden, harten Augen funkelten und blitzten in einer Mischung aus Zerknirschung und ihrer üblichen Schalkhaftigkeit.
»Warum führst du dich so auf?« fragte St. Clare, der immer wieder über ihren Ausdruck amüsiert war.
»Weil ich ein böses Herz habe«, antwortete das Kind unterwürfig, »Miß Feely sagt es auch.«
»Siehst du nicht, daß Miß Ophelia dir viel Gutes erwiesen hat? Sie sagt, mehr kann sie nicht für dich tun!«
»O Gott, gnädiger Herr, ich weiß, die alte Herrin hat das auch gesagt; sie hat mich viel doller gehauen, mein Haar gezaust, meinen Kopf gegen die Tür gebumst, hat alles nichts genützt. Wenn sie mir alle Haare herausziehen — nützt auch nichts. So böse bin ich. O Gott, ich bin ja doch nix als ein Nigger!«
»Also, da muß ich es aufgeben«, sagte Miß Ophelia, »ich kann diesen Ärger nicht länger ertragen.«
»Darf ich auch noch eine Frage stellen?« sagte St. Clare.
»Bitte.«
»Wenn dein Christentum nicht stark genug ist, ein Heidenkind hier zu Hause, ganz allein, zu erretten, wozu schickt man denn einige arme Missionare unter tausend ihresgleichen? Ich halte dieses Kind nur für ein Beispiel von tausend anderen.«
Miß Ophelia antwortete nicht sogleich; inzwischen hatte Eva, die der Szene schweigend beigewohnt hatte, Topsy ein stummes Zeichen gemacht, ihr zu folgen. Am Ende der Veranda befand sich ein kleines Glaszimmer, das St. Clare als eine Art Lesezimmer benutzte, dorthin entfernten sich die beiden.
»Was hat Eva vor?« sagte St. Clare, »das muß ich sehen.«
Er folgte ihnen auf Zehenspitzen, hob den schützenden Vorhang und blickte hinein. Einen Augenblick später legte er seinen Finger auf die Lippen und winkte leise Miß Ophelia, gleichfalls einen Blick hineinzuwerfen. Da saßen beide Kinder auf dem Boden einander gegenüber, Topsy mit ihrem gewohnten leichtsinnig unbeteiligten und drolligen Ausdruck, Eva dagegen brennend vor innerer Erregung und mit Tränen in den Augen.
»Warum bist du denn so böse, Topsy? Warum versuchst du es nicht und bist brav? Hast du niemand lieb, Topsy?«
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