»Vater!«
»Also auch Sie verzeihen mir?«
Marius konnte nicht sprechen.
Jetzt saß Cosette bei dem Greis, strich ihm seine weißen Haare aus der Stirn und küßte ihn.
Unendlich beglückt, ließ Jean Valjean sie gewähren. Es war, als ob Cosette ein wenig begriffe und die Schuld Marius’ abtragen wollte.
»Ach«, stammelte Jean Valjean, »wie dumm man doch ist! Ich glaubte schon, ich würde sie nie wiedersehen. Stellen Sie sich vor, Herr Pontmercy, ich dachte mir: Nie werde ich sie wiedersehen. Wie dumm! Man zählt nie auf Gott. Oh, ich war sehr unglücklich. Wahrhaftig, ich mußte Cosette zuweilen sehen. Auch ein Herz braucht, wie ein Hund, den Knochen, an dem es nagen kann. Aber ich begriff, daß ich überzählig war. Wohl überlegte ich mir alles. Sie brauchen mich nicht mehr, dachte ich, bleib in deinem Winkel, man darf sich nicht ewig den Leuten aufdrängen. Aber, Gott sei gesegnet, ich sehe sie wieder. Weißt du, Cosette, daß dein Mann sehr hübsch ist? Ach, Herr Pontmercy, erlauben Sie, daß ich du zu ihr sage. Es ist nur für kurze Zeit.«
»Das war schlecht von dir«, sagte Cosette, »daß du uns so allein gelassen hast. Wo warst du denn nur? Früher dauerten deine Reisen immer nur drei oder vier Tage. Ich habe oft Nicolette geschickt, aber immer bekam sie den Bescheid: noch verreist. Seit wann bist du denn zurück? Warum hast du uns nicht gleich verständigt? Marius, er ist sehr krank, fühle nur, wie seine Hand kalt ist!«
»Also ihr seid da! Sie verzeihen mir also, Herr Pontmercy!«
Bei diesem Wort schmolz Marius’ Herz, er schrie auf.
»Cosette, hörst du es? Er verlangt, daß ich ihm verzeihe! Weißt du auch, was er getan hat? Er hat mir das Leben gerettet. Mehr noch, dich hat er mir geschenkt. Und dann hat er sich selbst geopfert. Und ich Undankbarer, Unbarmherziger, ich stehe da, und er sagt zu mir: Danke! Cosette, wenn ich mein Leben lang vor diesem Mann auf den Knien gelegen wäre, es wäre nicht genug! Die Barrikade, die Kloake, das Schlammloch – alles für mich und für dich, Cosette! Tausendfach hat er mich vor dem Tod bewahrt und sich dem Tode ausgesetzt! Er besitzt jede Art von Mut, Tugend, Heroismus – er ist ein Engel!«
»Still«, sagte Jean Valjean, »warum sagen Sie das?«
»Warum haben Sie nichts gesagt? Sie sind selbst schuld. Sie retten den Leuten das Leben und verstecken sich! Mehr noch, unter dem Vorwand, sich zu demaskieren, verleumden Sie sich selbst! Es ist schrecklich!«
»Ich habe die Wahrheit gesagt«, antwortete Jean Valjean.
»Nein, denn nur die ganze Wahrheit ist wahr. Sie sind Madeleine, warum haben Sie das nicht gesagt? Sie haben Javert gerettet, warum haben Sie es verheimlicht? Ich schulde Ihnen mein Leben, warum sagten Sie es nicht?«
»Ich dachte wie Sie. Sie hatten ja recht. Ich mußte gehen. Wenn Sie von der Kloake gewußt hätten, hätten Sie mich gezwungen, bei Ihnen zu bleiben. Also mußte ich schweigen. Wenn ich gesprochen hätte, wäre ich Ihnen hinderlich gewesen.«
»Wer? Uns hinderlich? Glauben Sie wirklich, daß Sie jetzt hierbleiben werden? Nein, wir nehmen Sie mit. Großer Gott, wenn ich bedenke, daß nur ein Zufall mich aufgeklärt hat! Wir nehmen Sie gleich mit. Sie gehören zu uns. Sie sind Cosettes und mein Vater. Keinen Tag mehr sollen Sie in diesem schrecklichen Haus zubringen.«
»Ich werde morgen nicht mehr hier sein, aber auch nicht bei Ihnen.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Marius. »Oh, wir werden nicht erlauben, daß Sie wieder verreisen. Sie dürfen uns nicht mehr verlassen. Sie gehören uns, wir lassen Sie nicht.«
»Diesmal für immer«, bestätigte Cosette. »Der Wagen wartet unten. Ich nehme dich gleich mit. Wenn es nötig ist, auch mit Gewalt. Dein Zimmer in unserem Haus erwartet dich. Wenn du nur wüßtest, wie hübsch der Garten jetzt ist. Die Azaleen gedeihen prächtig. Auch kannst du frische Erdbeeren aus meinem Garten essen. Ich begieße sie immer selbst. Und jetzt ist es aus mit Frau Baronin und Herr Jean, bei uns ist Republik, alle Welt duzt sich, nicht wahr, Marius? Wir sind alle fröhlich und glücklich. Großvater wird sich sehr freuen. Du sollst ein eigenes Beet im Garten bekommen, dann wollen wir sehen, ob deine Erdbeeren ebensogut gedeihen wie meine. Ich werde alles tun, was du willst, aber du mußt mir auch gehorchen.«
Jean Valjean lauschte ihren Worten, ohne zu hören. Er fühlte nur die Musik ihrer Stimme.
»Ja«, sagte er schließlich, »das wäre sehr schön, wenn wir zusammenleben könnten. Ich könnte zu den Leuten gehören, die einander fröhlich guten Tag zurufen. Schon am frühen Morgen sieht man einander. Jeder könnte ein Beet bebauen. Sie wird mich ihre Erdbeeren essen lassen, ich schenke ihr meine Rosen. Sehr schön, nur … schade!«
Jean Valjean lächelte.
Cosette nahm seine Hände in die ihren.
»Mein Gott«, rief sie, »deine Hände sind ja noch kälter geworden. Bist du krank?«
»Oh, ich fühle mich sehr wohl. Nur …«
»Nur?«
»Ich sterbe.«
»Sterben!« rief Marius.
»Ja, aber es bedeutet nichts«, entgegnete Jean Valjean. »Cosette, sprich weiter, ich will deine Stimme hören.«
Marius starrte wortlos den Greis an.
»Vater«, rief Cosette, »du wirst leben! Ich will, daß du lebst!«
Jean Valjean sah sie innig an.
»Ja, verbiete mir nur zu sterben. Wer weiß, vielleicht gehorche ich dir. Ich war schon dabei, als ihr kamt. Das hat mich aufgehalten. Mir scheint, ich bin wiedergeboren.«
»Aber Sie sind ja noch voll Lebenskraft«, rief Marius, »wie können Sie glauben, daß man so leicht stirbt? Sie hatten Kummer, gut, aber das ist jetzt zu Ende. Jetzt bitte ich Sie um Verzeihung, und auf den Knien! Sie werden leben, mit uns und lange! Wir sind zwei, aber wir haben nur einen einzigen Gedanken, Ihr Wohlergehen.«
»Siehst du wohl, Vater«, sagte Cosette weinend, »auch Marius sagt, daß du nicht sterben wirst.«
Wieder lächelte Jean Valjean.
Jetzt wurde an die Tür geklopft. Es war der Arzt.
»Guten Tag, Herr Doktor«, sagte Jean Valjean. »Dies sind meine Kinder.«
Marius näherte sich dem Arzt. Er fragte nur »Herr Doktor …?«, aber in dieser Frage lag alles. Mit einem bedeutungsvollen Blick antwortete der Arzt.
Jetzt schwiegen alle bedrückt. Jean Valjean betrachtete Cosette, als ob er ihr Bild in die Ewigkeit mitnehmen wollte. Der Arzt fühlte seinen Puls.
»Also Sie sind es, die er brauchte!« murmelte er.
Jean Valjean sah jetzt auch Marius und den Arzt heiter an. Man hörte, wie er mit schwacher Stimme sagte:
»Sterben bedeutet nichts. Es ist schrecklich, nicht zu leben.«
Plötzlich richtete er sich auf. Die Rückkehr der Körperkraft ist zuweilen ein Vorbote des Todeskampfes.
»Ihr seid beide gut«, sagte Jean Valjean. »Ich will euch sagen, was mich gekränkt hat. Es tat mir leid, Herr Pontmercy, daß Sie das Geld nicht anrühren wollten. Dieses Geld gehört wirklich Ihrer Frau. Der schwarze Jett kommt aus England, der weiße aus Norwegen. Ihr findet das alles in dem Brief da. Was die Armbänder betrifft, habe ich entdeckt, daß es gar nicht gut ist, die Verschlüsse zu löten. Ungelötet sind sie hübscher und kommen billiger. Wenn ihr das lest, werdet ihr begreifen, daß man auf diese Weise viel Geld verdienen kann. Ich sage euch das alles nur, damit ihr beruhigt seid.«
Er winkte Cosette und Marius, sie sollten näher treten. Leise, als ob er schon aus der Ferne spräche, fuhr er fort:
»Tretet näher, ihr beiden! Ich liebe euch sehr. Auch du liebst mich, Cosette. Es ist schön, so zu sterben. Wußte ich es doch, daß du den Alten immer gern hattest! Du wirst doch ein wenig um mich weinen, nicht wahr? Aber nicht zuviel! Ich will nicht, daß du wirklich Kummer hast. Ihr sollt euch amüsieren, Kinder. Fast hätte ich vergessen, euch zu sagen, daß die Schnallen besser sind und einträglicher, wenn man den Dorn wegläßt. Wir haben schließlich sogar mit den Berliner Fabrikanten erfolgreich konkurriert. Gegen das schwarze Glas aus Deutschland kann man aber nicht kämpfen. Ein Gros, zwölfhundert gutgedrechselte Perlen, kostet nur drei Franken. Wenn man von den Schnallen zwölf Dutzend für zehn Franken herstellt, kann man sie für sechzig verkaufen. Da dürft ihr euch nicht wundern, wo die sechshunderttausend Franken herkommen. Es ist sauberes Geld. Ihr könnt mit gutem Gewissen reich sein. Ihr sollt euch einen Wagen halten, von Zeit zu Zeit ins Theater gehen und euren Freunden Gesellschaften geben. Ich habe Cosette geschrieben, sie wird den Brief finden. Er liegt dort auf dem Kamin zwischen den beiden Leuchtern. Sie sind aus Silber, aber für mich sind sie Gold, ja sogar Diamanten. Wenn man ein Talglicht in sie steckt, wird es zu einer Kerze. Ich weiß nicht, ob er, der sie mir geschenkt hat, da droben zufrieden mit mir ist. Ich tat, was ich konnte. Vergeßt nicht, liebe Kinder, daß ich ein armer Mann bin, und laßt mich in irgendeiner Ecke begraben. Ich will das so. Setzt keinen Namen auf meinen Stein. Wenn Cosette zuweilen mich besuchen will, wird es mich freuen. Auch Sie sollen kommen, Herr Pontmercy. Ich war, offen gesagt, nicht gerade immer Ihr Freund, Verzeihen Sie mir. Aber ich weiß, daß Sie Cosette glücklich machen, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich war immer glücklich, wenn das Kind rosig war, immer traurig, wenn ich sie blaß sah. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfrankenschein. Ich habe nichts davon verbraucht. Gebt das Geld den Armen. Cosette, siehst du dort auf dem Bett das Kinderkleid? Erkennst du es? Erinnerst du dich an Montfermeil, Cosette? Du hattest damals große Angst. Erinnerst du dich noch, wie ich dir den Eimer abnahm? Damals habe ich zum erstenmal dein armes, kleines Händchen berührt. Ach, es war so kalt! Du hattest rote Hände, damals, aber jetzt sind sie weiß. Und die große Puppe! Erinnerst du dich? Du nanntest sie Katherine. Es tat dir so leid, daß du sie nicht ins Kloster mitnehmen durftest! Wie oft habe ich lachen müssen über dich, mein Engel! Wenn es geregnet hatte, warfst du Strohhalme in den Rinnstein und sahst ihnen nach. Einmal kaufte ich dir einen Schläger und einen Ball mit gelben, blauen und grünen Federn. Du hast es vergessen. Und die Thénardiers waren sehr schlecht zu dir. Man muß es ihnen nicht verübeln. Du sollst jetzt auch den Namen deiner Mutter wissen. Sie hieß Fantine. Merk dir diesen Namen: Fantine. Knie immer nieder, wenn du ihn aussprichst. Sie hat viel gelitten und dich sehr geliebt. Cosette, es war nicht meine Schuld, daß ich all die Zeit über nicht zu dir kam. Mir hat es das Herz zerrissen; Kinder, ich sehe nicht mehr ganz klar, ich hätte euch noch vieles zu sagen, aber es ist ja nicht wichtig. Denkt ein wenig an mich. Ihr seid gesegnete Geschöpfe. Ich weiß nicht, was das ist, aber ich sehe jetzt Licht. Kommt noch näher. Gebt mir eure lieben Köpfe, damit ich meine Hände darauf lege.«
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