»Unmöglich.«
Cosette verlor ein wenig die Fassung. Jetzt gab sie es auf, Befehle zu erteilen, und begann zu fragen.
»Aber warum denn? Sie suchen das häßlichste Zimmer des Hauses aus … denn es ist scheußlich hier …«
»Du weißt … Sie wissen, Baronin, daß ich meine Eigenheiten habe. Es sind Schrullen …«
Cosette schlug die Hände zusammen.
»Baronin! Sie wissen … Das sind ja lauter Neuigkeiten. Was bedeutet denn das?«
Jean Valjean suchte seine Zuflucht bei einem schmerzlichen Lächeln.
»Nun, Sie wollten ja Frau Baronin sein, jetzt sind Sie es.«
»Aber doch nicht für Sie, Vater!«
»Nennen Sie mich nicht mehr Vater. Nennen Sie mich Herr Jean, oder Jean, wenn Sie wollen.«
»Nicht mehr Vater? Bin ich nicht mehr Cosette? Herr Jean? Was ist denn das? Die reinste Revolution! Was ist denn geschehen? Sehen Sie mir doch in die Augen! Und Sie wollen nicht bei uns bleiben? Was soll denn das?«
»Nichts.«
»Also?«
»Alles ist wie immer.«
»Aber warum wechseln Sie dann den Namen?«
»Sie haben ihn ja auch geändert, Sie sind jetzt Frau Baronin Pontmercy, ich bin Herr Jean.«
»Ich verstehe kein Wort davon. Das ist alles barer Unsinn. Ich werde meinen Mann bitten, daß er erlaubt, Sie Herr Jean zu nennen. Ich hoffe, er wird nicht darauf eingehen. Sie bereiten mir großen Kummer. Schrullen kann man ja haben, aber darum muß man Cosette nicht Kummer machen. Sie haben kein Recht, böse zu sein, denn Sie sind ja gut.«
Er antwortete nicht.
Lebhaft ergriff sie seine Hände, hob sie mit einer unwiderstehlichen Gebärde zu ihrem Gesicht und preßte sie zwischen ihren Hals und ihr Kinn. Diese Geste war von unbeschreiblicher Zärtlichkeit.
»Seien Sie wieder gut«, sagte sie. »Ich meine damit, Sie sollen freundlich sein und zu uns kommen. Es gibt hier Vögel, wie in der Rue Plumet. Sie sollen hier wohnen und dieses Loch in der Rue de l’Homme Armé verlassen, uns nicht Rätsel aufgeben, sich benehmen wie alle Leute, kurz, wieder mein Vater sein.«
Er löste seine Hände aus den ihren.
»Sie brauchen keinen Vater mehr, Sie haben einen Gatten.«
Cosette wurde zornig.
»Aber das hat wirklich keinen Sinn mehr!«
»Wenn Toussaint hier wäre«, begann Jean Valjean wieder, der sich auf andere zu berufen suchte, wie man in der Not nach dem schwächsten Ast greift, »so würde sie bestätigen, daß ich immer meine eigenen Ideen hatte. Das ist nichts Neues. Mir war mein Winkel im Dunkel immer lieb.«
»Aber hier ist es kalt und gar nicht hell. Und es ist auch unerträglich, daß Sie sich Herr Jean nennen lassen wollen. Ich will auch nicht, daß Sie zu mir ›Sie‹ sagen. Ich bin wütend! Seit gestern haben es alle darauf abgesehen, mich zornig zu machen. Ich begreife überhaupt nichts mehr. Ich richte ein Zimmer aufs netteste ein – wenn ich den lieben Gott selber hineinsetzen hätte können – ich hätte es getan. Jetzt läßt man mir mein Zimmer stehen. Mein Mieter bleibt den Zins schuldig. Ich bestelle ein gutes kleines Abendessen – holla, schon will man nicht bei mir essen. Vater Fauchelevent will plötzlich Herr Jean heißen und nur in einem häßlichen, verschimmelten Keller empfangen werden, wo die Mauern einen Bart haben und wo es nichts gibt als leere Flaschen und Spinnweben! Sie sind sonderbar, das weiß ich, gut, es ist Ihre Art, aber Leuten, die jung vermählt sind, gewährt man Waffenstillstand. Sie hätten etwas später mit diesen eigentümlichen Neigungen hervortreten sollen. Und Sie sind vollkommen glücklich in dieser widerwärtigen Rue de l’Homme Armé? Ich war trostlos dort! Was haben Sie nur gegen mich? Pfui!«
Dann wurde sie scharf, sah Jean Valjean ernst an und sagte:
»Sind Sie etwa böse, weil ich glücklich bin?«
Die Naivität dringt oft, ohne es selbst zu wissen, tief in das Wesen der Dinge ein. Diese Frage schien Cosette einfach, Jean Valjean aber furchtbar. Cosette zerfleischte sein Herz.
Er erblaßte und schwieg eine Zeitlang, dann murmelte er, als ob er mit sich selbst spräche:
»Ihr Glück war das Ziel meines Lebens. Jetzt kann Gott mich abberufen, Cosette, du bist glücklich; meine Zeit ist um.«
»Jetzt haben Sie wenigstens du gesagt!« rief Cosette.
Und sie fiel ihm um den Hals.
Abwärts
Am nächsten Tage kam Jean Valjean zur selben Stunde. Cosette fragte jetzt nicht mehr, wunderte sich kaum noch; auch lud sie ihn nicht mehr ein, in den Salon zu treten. Sie vermied es, ihn Vater oder Herr Jean anzureden. Auch wehrte sie sich nicht dagegen, daß er sie Baronin ansprach. Doch war sie nicht mehr so froh wie früher. Wenn sie jetzt fähig gewesen wäre, traurig zu sein, gewiß wäre sie traurig gewesen.
Offenbar hatte sie mit Marius eine jener Auseinandersetzungen gehabt, bei welchen der geliebte Mann sagt, was er will, und nichts erklärt. Die Neugierde der Verliebten geht nicht über ihre Liebe hinaus.
Das Zimmer im Erdgeschoß war ein wenig komfortabler gemacht worden. Baske hatte die Flaschen fortgeschafft, Nicolette die Spinnweben entfernt.
Und an allen weiteren Tagen kam Jean Valjean zur selben Stunde. Täglich kam er, denn er wagte nicht, Marius’ Erlaubnis anders als wörtlich zu nehmen. Der junge Mann richtete es so ein, daß er nie zu Hause war, wenn Jean Valjean kam. Allmählich gewöhnte sich das Haus an Herrn Fauchelevents neue Schrulle. Toussaint erklärte sogar:
»Er ist immer so gewesen.«
Und der Großvater sagte: »Ein Original.« Damit war alles gesagt.
So verstrichen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemächtigte sich allmählich Cosettes. Beziehungen, die aus der Heirat entstanden waren, Besucher, Sorgen des Haushalts, Vergnügungen, alle diese ernsten Dinge. Cosettes Luxus war nicht teuer. Er bestand nur im Zusammensein mit Marius. Mit ihm auszugehen, wenn er ausging, zu Hause zu bleiben, wenn er blieb, das war ihre größte Sorge. Immer wieder genoß sie die neue Freude, Arm in Arm mit ihm ausgehen zu dürfen am hellichten Tage, sich mit ihm ohne Begleiter in der Öffentlichkeit zu zeigen. Auch gab es allerlei Widerwärtigkeiten. Toussaint konnte sich mit Nicolette nicht vertragen und ging. Marius hatte viel zu tun, das Gericht nahm ihn oft in Anspruch.
Die Unterdrückung des vertraulichen »Du«, die Anrede als Baronin – alles das bewirkte, daß »Herr Jean« für Cosette ein anderer wurde. Er hatte sich ja bemüht, sie von sich zu entfernen, nun gelang es ihm. Sie wurde wieder heiter, war aber weniger zärtlich. Doch liebte sie ihn immer noch, das fühlte er wohl. Einmal sagte sie zu ihm: »Sie waren mein Vater, jetzt sind Sie es nicht mehr, dann waren Sie mein Onkel, jetzt sind Sie auch das nicht mehr. Erst Fauchelevent, jetzt Jean. Wer sind Sie eigentlich? Alles das ist mir recht unlieb. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie so gut sind, würde ich mich vor Ihnen fürchten.«
Aber er wohnte noch immer in der Rue de l’Homme Armé, wollte das Stadtviertel nicht verlassen, in dem auch Cosette lebte.
Seit einiger Zeit beobachtete Jean Valjean, daß das junge Paar recht zurückgezogen lebte. Die Sparsamkeit Marius’ hatte für Jean Valjean eine eigentümliche Bedeutung.
»Warum halten Sie sich nicht einen eigenen Wagen?« fragte er einmal Cosette. »Ein hübsches Coupé kostet nicht mehr als fünfhundert Franken monatlich. Sie sind reich.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Cosette.
»Und Toussaint ist weggegangen, ohne daß Sie Ersatz gesucht haben, warum?«
»Nicolette genügt mir.«
»Aber Sie brauchen doch eine Zofe.«
»Ich habe Marius.«
»Sie sollten ein eigenes Haus führen, Bedienstete haben, einen Wagen und eine Loge in der Oper. Es gibt nichts, was für Sie zu schön ist. Warum wollen Sie nicht daraus Nutzen ziehen, daß Sie reich sind? Der Reichtum ist gut, wenn er sich mit dem Glück verbindet.«
Читать дальше