»Ich schwöre dir, wir müssen allein sein.«
»So, jetzt reden Sie mit der Männerstimme, Herr. Gut, ich kann ja gehen. Und Sie, Vater, haben mir auch nicht geholfen. Ihr seid beide Tyrannen. Ich werde es dem Großvater sagen. Wenn ihr glaubt, ich komme wieder und erzähle euch Geschichten, so irrt ihr euch. Ich bin stolz.«
Und sie ging.
Die Tür fiel ins Schloß, und es war, als ob es in dem Zimmer wieder dunkel würde.
Marius überzeugte sich, daß die Tür wirklich geschlossen war.
»Arme Cosette«, murmelte er, »wenn sie erfahren wird …«
Jetzt begann Jean Valjean an allen Gliedern zu zittern. Ein entsetzter Blick fiel auf Marius.
»Oh, Sie wollen es Cosette sagen! Ach, daran hatte ich nicht gedacht. Man ist stark genug, das eine zu ertragen, aber dann versagt die Kraft. Herr, ich bitte und beschwöre Sie, geben Sie mir Ihr heiligstes Ehrenwort, daß Sie nichts sagen werden. Genügt es denn nicht, daß Sie es wissen? Ich konnte es von selbst sagen, ohne gezwungen zu werden, der ganzen Welt hätte ich es sagen können, nur ihr nicht. Wie soll man ihr begreiflich machen, was ein Galeerensträfling ist? Großer Gott!«
Er sank in den Stuhl und verbarg sein Gesicht in den Händen. Man hörte nichts, aber an dem Zucken seiner Schultern konnte man erkennen, daß er weinte. Stille Tränen – furchtbare Tränen.
»Seien Sie ruhig«, sagte Marius, »ich werde Ihr Geheimnis für mich behalten.«
Er war vielleicht nicht so mitleidvoll, wie er hätte sein sollen; aber seit allzu kurzer Zeit mußte er sich mit einer schrecklichen und unerwarteten Wirklichkeit auseinandersetzen, mußte begreifen, daß er nicht Fauchelevent, sondern einen Galeerensträfling vor sich hatte.
»Ich muß Ihnen auch einige Worte wegen des Geldes sagen, das Ihnen zur Aufbewahrung gegeben wurde und das Sie so treu verwahrt haben. Das ist ein Beweis von hoher Ehrlichkeit. Sie müssen belohnt werden. Bestimmen Sie selbst den Betrag – scheuen Sie sich nicht, ihn hoch zu bemessen.«
»Ich danke Ihnen, mein Herr«, antwortete Jean Valjean sanft.
Einen Augenblick lang blieb er in Nachdenken versunken, dann meinte er:
»Jetzt ist alles so ziemlich erledigt. So hätte ich nur noch …«
»Was?«
Jean Valjean zögerte, dann stammelte er mit erstickter Stimme:
»Glauben Sie jetzt, da Sie alles wissen und allein zu bestimmen haben, daß ich Cosette nicht wiedersehen soll?«
»Ich denke, es wäre wohl das beste«, antwortete Marius kalt.
»Ich werde sie nicht mehr sehen«, murmelte Jean Valjean. Er ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, schon ging die Tür auf. Aber noch immer stand er still. Jetzt wandte er sich nach Marius um. Er war totenblaß. Jetzt hatte er keine Tränen mehr in den Augen, aber ein seltsam unseliges Feuer leuchtete aus ihnen. Seine Stimme war eigentümlich ruhig.
»Wissen Sie, mein Herr«, sagte er, »wenn es Ihnen recht ist, werde ich doch kommen, Cosette besuchen. Ich sehne mich sehr danach, das können Sie mir glauben. Wenn ich nicht an ihr hinge, wäre ich abgereist, ohne mit Ihnen zu sprechen, wie ich es getan habe. Aber da ich bleiben wollte, wo Cosette ist, und sie auch wiedersehen, mußte ich Ihnen alles sagen. Sie verstehen mich doch, nicht wahr? Das ist ja leicht zu verstehen. Wissen Sie, ich habe das Kind neun Jahre lang bei mir gehabt. Erst wohnten wir in diesem Haus auf dem Boulevard, dann im Kloster, zuletzt in der Nähe des Luxembourg. Dort haben Sie uns das erstemal gesehen. Sie erinnern sich wohl noch an den blauen Plüschhut. Dann sind wir in das Quartier des Invalides gezogen, dort hatten wir das Haus mit dem Garten. Rue Plumet. Ich wohnte in dem kleinen Hinterhof, konnte sie immer singen und Klavier spielen hören. Das war mein Leben. Niemals trennten wir uns, neun Jahre und einige Monate. Ich war wie ihr Vater – sie war mein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie mich ganz verstehen, Herr Pontmercy, aber jetzt wegzugehen, sie nicht mehr zu sehen, nie mehr mit ihr zu sprechen, gar nichts von allem zu behalten, das ist schwer. Wenn Sie es erträglich finden, komme ich von Zeit zu Zeit zu Cosette. Ich muß ja nicht oft kommen, und ich werde nicht lange bleiben. Sagen Sie ihr, sie soll mich in dem kleinen Zimmer unten empfangen, im Erdgeschoß. Ich würde ja auch durch die andere Tür hereingehen, die für die Dienstboten ist, aber es würde auffallen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich durch das Haupttor gehe. Wirklich, ich möchte Cosette zuweilen sehen. Selten, nur sooft es Ihnen beliebt. Versetzen Sie sich in meine Lage. Ich habe ja sonst nichts. Wir müssen auch aufpassen. Wenn ich gar nicht mehr komme, wird es einen schlechten Eindruck machen, und man wird das seltsam finden. Doch kann ich, wenn Sie es wünschen, nur abends kommen, bei Einbruch der Dunkelheit.«
»Kommen Sie jeden Abend«, sagte Marius, »Cosette wird Sie erwarten.«
Marius verneigte sich, das Glück geleitete die Verzweiflung zur Tür, und die beiden Männer trennten sich.
Das Zimmer im Erdgeschoß
Am nächsten Tage, gegen Einbruch der Dämmerung, klopfte Jean Valjean an die Tür des Hauses Gillenormand. Baske öffnete. Ohne zu warten, daß Jean Valjean ihn anredete, sagte er:
»Der Herr Baron hat mich beauftragt, Sie zu fragen, ob Sie in den ersten Stock hinaufkommen oder unten bleiben wollen?«
»Ich bleibe unten«, antwortete Jean Valjean.
Baske, der es übrigens nicht an Respekt ermangeln ließ, öffnete die Tür des Zimmers im Erdgeschoß und sagte:
»Ich werde die gnädige Frau verständigen.«
Dieses Zimmer war ein feuchter Raum mit gewölbter Decke; er diente gelegentlich als Speicher, ging nach der Straße hinaus, war mit roten Fliesen bepflastert und empfing sein spärliches Licht durch ein vergittertes Fenster.
Hier blieb der Staub ungestört liegen. Noch war die Verfolgung der Spinnen nicht organisiert. Ein schönes, breites, mit toten Fliegen geschmücktes Gewebe spannte sich über die Fensterscheibe. In einer Ecke waren leere Flaschen aufgestapelt. Die Wände waren einst ockergelb getüncht gewesen, doch hatten sich große Stücke der Bemalung abgelöst. Im Kamin brannte ein Feuer. Offenbar hatte man also erwartet, daß Jean Valjean sagen würde:
»Ich bleibe unten.«
Zu beiden Seiten des Kamins standen Lehnstühle. An Stelle eines Teppichs hatte man einen alten Bettvorleger ausgebreitet, dessen Wolle schon ganz abgeschabt war.
Jean Valjean war sehr müde. Seit Tagen hatte er nicht mehr gegessen, nicht geschlafen. Er sank in einen der Stühle.
Baske kam wieder, stellte eine brennende Kerze auf den Kamin und zog sich zurück. Jean Valjean saß, das Kinn auf die Brust gestützt, in seinem Stuhl und bemerkte nichts.
Plötzlich fuhr er auf. Cosette stand hinter ihm. Er hatte sie nicht eintreten gesehen, fühlte aber, daß sie da war.
»Ach«, rief Cosette, »ich wußte, Vater, daß Sie eigentümliche Launen haben, aber das hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Welch eine Idee! Marius sagte, Sie verlangen, daß ich Sie hier empfange.«
»Ja, ich möchte es.«
»Auf diese Antwort war ich gefaßt. Gut, dann mögen Sie wissen, daß ich Ihnen jetzt gleich eine Szene machen werde. Fangen wir von vorne an. Küssen Sie mich, Papa.«
Sie bot ihm die Wange. Aber Jean Valjean rührte sich nicht.
»Sie rühren sich nicht. Ich stelle das fest. Das ist die Haltung des Schuldbewußtseins. Immerhin, ich verzeihe Ihnen. Jesus Christus hat gesagt: Haltet die andere Wange hin. Hier ist sie.«
Wieder rührte sich Jean Valjean nicht.
»Nun, jetzt wird die Sache ernst! Was habe ich Ihnen denn getan? Ich bin wirklich beleidigt. Sie sollten mich lieber versöhnen. Sie speisen heute mit uns.«
»Ich habe schon gegessen.«
»Das ist nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand sagen, daß er Sie ausschelten soll. Die Großväter sind wie geschaffen dazu, den Vätern die Leviten zu lesen. Gut, jetzt kommen Sie mit mir in den Salon, sofort.«
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