Bei diesem Wort regte sich in Jean Valjean Zorn. Er verschränkte die Arme, starrte den Fußboden an, als ob er ein Loch in die Erde bohren wollte, und sprach laut:
»Eine Familie? Nein. Ich gehöre zu keiner Familie, nicht zu der Ihren und nicht zu der der Menschen schlechthin. Ich bin in allen Häusern, wo Menschen untereinander sind, überzählig. Ich bin ein Unglücklicher, der außen steht. Habe ich Vater und Mutter gehabt? Fast bezweifle ich es. An dem Tag, da ich dieses Kind verheiratete, war alles vorbei; ich sah sie glücklich, sie hatte den Mann gewonnen, den sie liebt, alle Freuden einer Familie – da sagte ich mir: dringe nicht ein! Ich konnte lügen, gewiß, Sie alle täuschen, Fauchelevent bleiben. Solange es für das Kind war, konnte ich es. Aber jetzt, da es um meinetwillen geschehen soll, kann ich es nicht mehr tun. Ich brauchte ja nur zu schweigen, gewiß, und alles wäre weitergegangen. Sie fragen, was mich zu sprechen zwingt: ein komisches Ding, mein Gewissen. Es wäre ja leicht gewesen, zu schweigen. Eine Nacht lang habe ich versucht, mich zu diesem Entschluß durchzuringen. Ich habe alle Gründe, sehr gute Gründe, die sich dafür anführen lassen, erwogen, und doch – ich habe getan, was ich konnte. Nur zwei Dinge gelangen mir nicht: ich konnte weder jenes Band zerreißen, das mein Herz umschlungen hält, noch konnte ich jenen Berater zum Schweigen bringen, der da zu mir spricht, wenn ich allein bin. Darum bin ich hierhergekommen, um Ihnen heute morgen alles zu sagen – alles oder fast alles. Dinge, die nur mich betreffen, behalte ich für mich. Das Wichtigste wissen Sie jetzt. Ich habe mein Geheimnis hierhergetragen und vor Ihnen entblößt. Oh, es wäre wohl äußerlich alles gut gewesen, wenn ich Fauchelevent geblieben wäre. Aber dieses scheinbare Glück genügt nicht. Der Mensch muß mit sich selbst zufrieden sein. Sollte ich, ohne Sie zu warnen, Sie in Beziehungen zum Bagno bringen? Sollte ich mich an Ihren Tisch setzen, mit dem Gedanken, daß Sie mich fortjagen würden, wenn Sie wüßten, wer ich bin? Soll ich mich von Ihren Bedienten betreuen lassen, die mir verächtlich den Rücken kehren würden, wenn sie mein Geheimnis erführen? Sollte ich mir einen Druck Ihrer Hand stehlen? Sooft in diesem Hause vier Leute einig und glücklich beisammengesessen wären, Ihr Großvater, Sie beide und ich, immer wäre einer unter uns ein Unbekannter gewesen. Oh, es gibt Fälle, in denen Schweigen Lügen bedeutet. Und diese Lüge, diesen Diebstahl, diesen elenden Verrat hätte ich Tropfen für Tropfen täglich ausspeien und wieder aufsaugen sollen! Damit hätte ich schlafen sollen! Cosette zulächeln, mein Brot essen? Solcher Betrug, um glücklich zu sein?«
In einem Ton, der sich nicht beschreiben läßt, fuhr er fort:
»Herr Pontmercy, ich bin ein Ehrenmann, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Im Ausmaß, in dem ich mich vor Ihnen erniedrige, steige ich in meiner eigenen Achtung. Ich wäre kein Ehrenmann, wenn Sie mich achten würden, weil ich den Betrug fortsetze; jetzt aber, da Sie mich verachten, bin ich es. Mein Geschick will, daß ich nur erschlichene Wertschätzung genießen kann, die mich demütigt und kränkt; damit ich mich achten kann, müssen die andern schlecht von mir denken. Dann bin ich stolz. Ich bin ein Galeerensträfling, der seinem Gewissen folgt. Ich weiß wohl, daß das unglaublich klingt. Aber was soll ich tun? Es ist doch so. Ich habe gewisse Verpflichtungen mir selbst gegenüber auf mich genommen, und die halte ich. Es gibt im Leben Begegnungen, die uns Verpflichtungen auferlegen, Zufälle, die uns binden. Mir ist viel geschehen in meinem Leben, Herr Pontmercy!«
Wieder machte Jean Valjean eine Pause. Er würgte, als ob seine Worte einen bitteren Nachgeschmack hätten.
»Früher habe ich, um zu leben, Brot gestohlen; heute will ich nicht zu demselben Zweck einen Namen stehlen.«
Wieder trat eine Pause ein. Beide schwiegen, jeder von seinen Gedanken in Anspruch genommen. Marius saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Jean Valjean ging auf und ab.
»Stellen Sie sich doch vor, was geschehen wäre, mein Herr. Gut, ich sage also nichts und bleibe Herr Fauchelevent. Ich nehme meinen Platz in Ihrem Hause ein, bin einer der Ihren, komme morgens in Pantoffeln zum Frühstück, abends gehen wir zu dritt ins Theater, ich begleite Madame Pontmercy in die Tuilerien oder zur Place Royal; immer sind wir beisammen. Eines Tages sitzen wir da, Sie, ich, wir plaudern, lachen, plötzlich hören Sie den Namen Jean Valjean rufen, sehen, wie eine Hand, die Hand der Polizei, mir die Maske vom Gesicht reißt.«
Marius war entsetzt aufgesprungen.
»Nun, was sagen Sie dazu?«
Das Schweigen Marius’ war eine Antwort.
»Sie sehen«, fuhr Jean Valjean fort, »daß ich recht hatte, nicht zu schweigen. Seien Sie glücklich, seien Sie der Engel eines Engels, machen Sie sich keine Sorge darum, wie ein armer Verdammter sein Herz zerfleischt und doch seine Pflicht tut.«
Marius trat zu Jean Valjean und reichte ihm die Hand. Jean Valjean reichte sie ihm nicht, Marius mußte sie selbst ergreifen. Sie war kalt wie Marmor.
»Mein Großvater hat Freunde«, sagte Marius, »wir werden Ihre Begnadigung erwirken.«
»Das ist unnötig. Man glaubt mich tot, und das genügt. Die Toten werden nicht verfolgt. Der Tod ist ebensogut wie eine Begnadigung. Und überdies ist die Pflicht der einzige Freund, dessen Hilfe ich in Anspruch nehme; ich brauche keine andere Gnade als die meines Gewissens.«
In diesem Augenblick wurde sanft die Tür geöffnet, und Cosettes Kopf tauchte in dem Spalt auf. Man sah nur ihr liebenswürdiges Gesicht und das Haar, das noch ungeordnet, aber um so reizender war; sie sah erst Jean Valjean, dann Marius an und rief lächelnd:
»Wetten, daß ihr von Politik sprecht! Wie dumm von euch! Statt zu mir zu kommen …«
Jean Valjean fuhr zusammen.
»Cosette«, stammelte Marius, konnte aber nicht weitersprechen. Die beiden Männer sahen wie ertappte Verbrecher aus.
»Jetzt habe ich euch in flagranti erwischt«, sagte Cosette. »Gerade habe ich noch gehört, wie Papa sagte: Gewissen … Pflicht … das ist alles nur Politik! Ich will das nicht. Schon am ersten Tag nach der Hochzeit von Politik sprechen, das geht wirklich nicht. Das ist nicht recht.«
»Du irrst, Cosette«, erwiderte Marius, »wir sprachen von Geschäften. Es handelt sich um die Frage, wie wir die sechshunderttausend Franken anlegen sollen.«
»Das ist alles Unsinn. Ich bin da. Werde ich hier gebraucht?«
Jetzt öffnete sie kurz entschlossen die Tür und trat in den Salon. Sie trug ein langes, weißes Peignoir mit weiten Ärmeln, die fast bis zu den Füßen herabfielen. Auf alten gotischen Bildern sieht man diese entzückenden Gewänder, von Engeln getragen.
Sie betrachtete sich von Kopf bis zu Fuß in einem großen Spiegel, dann rief sie fröhlich:
»So, nun bleibe ich bei euch. In einer halben Stunde wird gefrühstückt, da könnt ihr euch nach Lust unterhalten. Ich werde euch ganz vernünftig zuhören.«
Marius ergriff ihren Arm und sagte zärtlich:
»Wir sprechen von Geschäften. Nur Ziffern – es wird dich langweilen.«
»Du hast heute ein hübsches Halstuch umgenommen, Marius. Sie sind recht kokett, edler Herr. Nein, ich werde mich nicht langweilen.«
»Doch, gewiß!«
»Nein, denn es handelt sich ja um euch. Wenn ich es auch nicht verstehe, ich werde doch zuhören. Wenn man die Stimmen hört, die man liebt, braucht man ja nicht zu wissen, was gesprochen wird. Darum bleibe ich bei euch.«
»Es ist unmöglich, liebe Cosette.«
»Unmöglich?«
»Ja.«
»Schön«, sagte Cosette, »und ich wollte euch so viele Neuigkeiten erzählen. Ich hätte euch gesagt, daß Großvater noch schläft, daß die Tante zur Messe gegangen ist, daß der Kamin in Vaters Zimmer raucht, daß Nicolette den Schornsteinfeger geholt hat, daß Toussaint und Nicolette sich schon gezankt haben und daß Nicolette sich über Toussaint lustig macht, weil sie stottert. So, jetzt erzähle ich euch gar nichts. Ach, unmöglich? Nun, jetzt werde ich einmal sagen: unmöglich! Ich bitte, mein kleiner Marius, laß mich doch bei euch!«
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