Marius las. Hier hatte er es mit unanzweifelbaren Tatsachen zu tun, denn diese Blätter konnten nicht gedruckt worden sein, nur um Thénardiers Behauptungen zu bestätigen. Der Bericht des »Moniteur« war ein Communiqué der Polizeipräfektur. Marius konnte nicht zweifeln. Der Kassierer hatte sich offenbar getäuscht. Plötzlich wuchs Jean Valjean zu gewaltiger Größe an, trat aus dem Dunkel hervor.
»Ja, aber dann ist dieser Unglückliche ein bewunderungswürdiger Mann! Das Vermögen gehörte ihm also wirklich! Er ist Madeleine, der Retter Javerts! Ein Held! Ein Heiliger!«
»Weder ein Held, noch ein Heiliger«, antwortete Thénardier. »Ein Dieb und ein Mörder.«
»Noch immer?«
»Noch immer. Er hat zwar nicht Madeleine bestohlen, aber er ist ein Dieb. Er hat nicht Javert ermordet, aber er ist ein Mörder. Ich will Ihnen alles sagen, Herr Baron, und ich verlasse mich, was die Entlohnung betrifft, auf Ihre Güte. Dieses Geheimnis ist gemünztes Gold wert. Herr Baron, am 6. Juni 1832, vor etwa einem Jahre, an dem Tag der Rebellion, hielt sich ein Mann in der Sammelkloake auf, dort, wo sie sich in die Seine ergießt, zwischen dem Pont-des-Invalides und dem Pont-d’Jéna. Dieser Mann mußte sich aus Gründen, die übrigens nichts mit Politik zu tun hatten, verbergen. Darum hatte er die Kloake zu seinem Wohnsitz auserkoren und sich einen Schlüssel verschafft. Dies geschah, wiederhole ich, am 6. Juni. Es mochte gegen acht Uhr abends sein. Da hörte dieser Mann in der Kloake ein Geräusch. Sehr verwundert duckte er sich und hielt Ausschau. In der Dunkelheit näherten sich Schritte. Es war sonderbar, in dieser Kloake befand sich außer ihm noch ein Mann. Das Gitter war nicht weit von dieser Stelle entfernt. Immerhin ließ es genug Licht durch, daß jener Mann den Neuankömmling ziemlich gut sehen und etwas bemerken konnte. Dieser Mann ging gebückt. Er trug etwas auf dem Rücken. Und dieser Mann, der da gebückt ging, war ein alter Galeerensträfling, der Gegenstand aber, den er auf dem Rücken trug, war ein Leichnam. Also: ein Mörder, in flagranti ertappt. Was den Diebstahl betrifft, so versteht er sich von selbst. Denn für nichts und wieder nichts bringt man niemand um. Der Sträfling wollte also seinen Leichnam in den Fluß werfen. Ein Umstand war besonders auffällig. Bevor der Mörder zu dem Gitter gelangen konnte, mußte er an einem Schlammloch vorüberkommen, und in dieses hätte er die Leiche ganz gut werfen können. Allerdings, die Kanalräumer hätten am nächsten Tage den Toten gefunden, und man hätte sich nach dem Mörder auf die Suche gemacht. So hatte er es vorgezogen, mit seiner Last durch dieses Schlammloch hindurchzuwaten, und das muß furchtbar schwer gewesen sein. Da hieß es sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Mir ist es noch heute unbegreiflich, wie er dabei lebendig herausgekommen ist. Herr Baron, die Kloake ist nicht das Marsfeld. Man ist dort etwas beengt. Wenn zwei Menschen in der Kloake sind, müssen sie einander notwendigerweise begegnen. Und das geschah. Der Mann, der hier seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, und der andere, der nur vorbeikam – diese beiden mußten einander guten Tag sagen, so unlieb es ihnen auch war. Und der Fremde sagte zu dem Kloakenbewohner: du siehst, was ich da auf dem Rücken habe. Ich muß hinaus, du hast den Schlüssel, gib ihn mir. Dieser Sträfling sah fürchterlich aus. Er war nicht einer, dem man etwas abschlägt. Der andere versuchte zu parlamentieren, um wenigstens Zeit zu gewinnen. Er sah sich den Toten an, konnte aber nur bemerken, daß er jung aussah, hübsch angezogen war, einem Reichen glich und viel Blut im Gesicht hatte. Während er sich also mit dem Sträfling unterhielt, fand er eine Gelegenheit, unauffällig einen Fetzen von dem Rock des Ermordeten abzureißen. So etwas ist ein Beweisstück, begreifen Sie? Das genügt, um eine Spur zu verfolgen und einen Verbrecher zu überführen. Dann öffnete er, ließ den andern mit seiner Last auf dem Buckel hinaus, sperrte wieder zu und zog sich zurück. Sie begreifen jetzt wohl. Der Mann, der diesen Toten trug, war Jean Valjean, und jener mit dem Schlüssel spricht gerade mit Ihnen; der Fetzen Tuch aber …«
Thénardier zog ein etwa zwei Zoll langes, schwarzes, zerrissenes Stück Tuch aus der Tasche.
Marius war aufgestanden. Er vermochte kaum zu atmen. Wortlos, ohne das Stück Tuch aus dem Auge zu lassen, eilte er zur Wand, suchte tastend den Schlüssel eines neben dem Kamin eingebauten Wandschranks. Er fand ihn, schloß auf, griff, ohne hinzusehen, in den Schrank und warf dann einen alten, schwarzen, blutbefleckten Rock auf den Boden.
»Der junge Mann war ich, und dies hier ist der Rock!« rief er.
Thénardier erstarrte zu Stein. Verzweifelt und strahlend zugleich richtete sich Marius auf. Wieder griff er in die Tasche, trat vor Thénardier hin, hielt ihm die Faust, in der er noch einige Banknoten hatte, unter die Nase und schrie:
»Sie sind ein Schurke! Sie sind ein elender Lügner, ein Verleumder und Schuft! Sie kommen hierher, um jenen Mann anzuklagen, und Sie haben ihn nur gerechtfertigt! Sie wollten ihn zugrunde richten, aber Sie haben seine Ehre wiederhergestellt! Sie sind ein Dieb, und Sie sind ein Mörder! Ich habe Sie sehr wohl damals auf dem Boulevard de l’Hôpital gesehen, Thénardier-Jondrette! Ich weiß genug, um Sie sofort in das Bagno zu schicken. Mehr noch, wenn Sie wollen! Da haben Sie noch tausend Franken, Sie Hund! Feiger Schurke! Mag Ihnen das eine Lehre sein, Sie Schacherer mit Geheimnissen, nehmen Sie noch diese fünfhundert Franken und packen Sie sich fort! Nur Waterloo bewahrt Sie vor dem Schlimmsten!«
»Waterloo?« murmelte Thénardier und steckte die beiden Banknoten ein.
»Allerdings, Sie Mörder, Sie haben einem Obersten das Leben gerettet …«
»Einem General«, antwortete Thénardier und hob den Kopf.
»Einem Obersten«, schrie Marius, »für einen General würde ich keinen Pfifferling geben. Und jetzt kommen Sie hierher aus purer Niedertracht! Es gibt kein Verbrechen, das Sie nicht begangen hätten. Verschwinden Sie! Fort mit Ihnen aus Paris! Lassen Sie sich anderswo aufhängen.«
Thénardier verneigte sich tief.
»Ewigen Dank, Herr Baron«, sagte er.
Und er ging.
Auch wir wollen mit diesem Menschen fertig werden. Zwei Tage später schiffte er sich unter falschem Namen nach Amerika ein. Das moralische Elend dieses Menschen war unabänderlich. Er war in Amerika, was er einst in Europa gewesen. Mit dem Geld, das Marius ihm gegeben, wurde er Sklavenhändler.
Sobald Thénardier fort war, eilte Marius zu Cosette in den Garten.
»Cosette!« rief er, »komm schnell! Baske, eine Droschke! Komm, Cosette! Großer Gott, er ist es, der mir das Leben gerettet hat! Wir dürfen keine Minute verlieren!«
Cosette gehorchte.
Marius war fassungslos. Jetzt erschien ihm Jean Valjean als eine erhabene, unvergleichliche Gestalt. Dieser Sträfling nahm die Gestalt Christi an.
Im nächsten Augenblick stand die Droschke vor der Tür. Marius hob Cosette hinein und folgte ihr.
»Kutscher«, rief er, »Rue de l’Homme Armé Nr. 7!«
Letzte Nacht. Der Tag bricht an
Jean Valjean hörte an die Tür klopfen und wandte sich um.
»Herein«, sagte er schwach.
Die Tür ging auf, Cosette und Marius erschienen.
Die junge Frau eilte an den Tisch. Marius blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich an den Türpfosten.
»Cosette«, sagte Jean Valjean und richtete sich in seinem Lehnstuhl auf. Eine unaussprechliche Freude war in seinen Augen.
Außer sich vor Rührung sank ihm Cosette an die Brust.
»Vater!« rief sie.
»Cosette!« stammelte Jean Valjean, »du bist es! Großer Gott!« Er schloß sie in seine Arme. »Also du bist es! Du verzeihst mir also!«
Marius, der die Lider niederschlagen mußte, um die Tränen zu unterdrücken, trat vor und murmelte, krampfhaft mit dem Schluchzen kämpfend:
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