Am Morgen des letzten Tages gingen er, Elga und Glückskind an das breite, sandige Ufer des Flusses, der durch die Wiese floss und an dem mehrere Männer in der Sonne an ihren Vogelsichtbildern arbeiteten. Wie immer beteiligten sich vor allem alte Männer, und je mehr sie in ihrem Leben gewandert waren, desto besser waren sie darin und desto mehr interessierten sie sich dafür. Es war ein Spiel für Reisende. Eine Menge alter Männer und einige wenige alte Frauen, insgesamt vielleicht zwei Dutzend, spazierten zwischen denen umher, die selbst Vogelsichtbilder anfertigten, und sahen ihnen zu.
Die Bildner kauerten am Rand ihrer Darstellungen, standen auf Zehenspitzen und streckten sich weit vor, um den Sand so zu glätten und zu formen, wie eine Gegend ihrer Meinung nach von weit oben ausgesehen hätte, auf die Abmessungen ihres Bildes geschrumpft. Manchmal bildeten sie weite Landstriche nach, die vom Festgelände und der Rentiersteppe bis hin zu den Bergen im Süden und dem großen Salzmeer im Westen reichten. Andere wählten sich kleinere Bereiche. Es gab deutlich voneinander unterscheidbare Stile, so wie auch Wandmalereien entweder Dreistriche oder voll ausgearbeitet sein konnten: Manche Ansichten bestanden einfach nur aus weichem Sand, der mit Hand und Stock geformt wurde, sodass sich in ihnen gewissermaßen die nackte Haut des Landes zeigte; bei anderen kamen Mooskissen für die Wiesen zum Einsatz, Zweige als Bäume, in den Sand gesteckte Kieselsteine, die an das Glitzern von Wasser aus großer Höhe erinnerten, und sogar einige kleine Figuren von Tieren, Leuten oder Häusern, mit denen sonst die Kinder spielten. Einer hatte sogar Schnee aufgeschichtet, um die Eiskappen des Hochlands darzustellen, und in der Vogelsicht einer alten Frau war sogar der große Eiswall des Nordens zu sehen, hier nur knöchelhoch.
Es war seltsam, diese winzigen Welten zu sehen, als wäre man ein Adler am höchsten Punkt seines Flugs, und einige der ausgeschmückteren Ansichten waren wunderhübsch. Doch ihre Schöpfer unterhielten sich vor allem darüber, wie präzise sie waren. Mit langen Stöcken deutete man auf besondere Merkmale; es wurde von Reisen berichtet und viel darüber gestritten, wie viel ein Tagesmarsch war, wenn man ihn auf die Wegstrecke übertrug. Es waren Streitfragen, die sich nie ganz klären ließen, genauso wenig wie das rechte Maß der Verkleinerung, durch die sie einen großen Teil der Welt auf einen Flecken Sand von drei Schritten Durchmesser reduziert hatten; doch voller Begeisterung debattierten sie endlos, dabei auf Sandhügel und Schluchten deutend. — Ich war in diesem Tal, das du als flach darstellst, und es ist viel tiefer, ich bin im zwölften Monat hindurchgegangen, und die Sonne ist nicht ein einziges Mal über die Südwand gestiegen, du musst es also tiefer machen. — Kann schon sein, warte, ich schaufele ein wenig heraus.
Und so ging es weiter. Am Ende verkündeten alle, welche Vogelsicht ihnen am besten gefiel, und dann wurde der Tagessieger gekürt, der einen Eimer voll Maische und die Gelegenheit erhielt, eine oder zwei Fäuste lang anzugeben, bevor sich alle, sowohl Zuschauer als auch Bildner, um die Ränder der winzigen Landschaften versammelten und auf sie draufsprangen, sie zu aufgewühltem Sand zerstampften, der schlimmer aussah als der Schlamm an der Rentierfurt. Götter, die Welten zerstörten; es war der beste Tanz, den es gab, und sie lachten und schrien, sprangen umher und traten aus und fühlten sich großartig dabei.
Trotzdem entspannte Eistaucher sich erst richtig, als das Fest vorbei war und sie ihr getrocknetes Fleisch und ihre neu eingetauschten Sachen zurück nach Hause in ihre Balme am Gewundenen Tal gebracht hatten.
Im Herbst essen wir, bis die Vögel fort sind,
Und tanzen im Licht des Mondes.
Langsam hatte Eistaucher wieder das Gefühl, dass sein Leben Wirklichkeit war. Eigentlich war ihm das seit seiner Wanderschaft nicht mehr so vorgekommen; er hatte den Eindruck gehabt, irgendwann in dieser Zeit in eine andere Welt gelangt und nie zurückgekehrt zu sein. Sich in einen Traum verirrt zu haben und nie erwacht zu sein. So etwas konnte passieren; einige von Dorns Geschichten handelten von Leuten, denen das passiert war, und Eistaucher glaubte daran, weil er es selbst erlebt hatte, als Kind, nach dem Tod seiner Mutter. Und dann erneut auf seiner Wanderschaft.
Und jetzt wieder. Er war in einen weiteren Traum getreten, durch jenen Ort hindurch, an dem sich alle Welten begegneten, hinein in die nächste Welt. Hier entkrampfte sein Magen sich langsam, und er konnte lachen, ohne ein Stocken in der Kehle zu verspüren. Elga saß dort am Feuer, groß zwischen den anderen Frauen, fraß sich von der Herbstausbeute Fett an, wuchs um das neue Kind in ihrem Bauch, das sie bald zur Welt bringen würde. Sie redete nach wie vor nicht viel, und ihre Augen blickten hart wie Kiesel, immer wachsam; aber auch immer anwesend, während sie den anderen Frauen zuhörte und dabei geduldig nickte, Fragen stellte, mit denen sie sie am Reden hielt. Das Fragen ließ sie skeptisch erscheinen, doch Eistaucher fiel auf, dass sie den Blick auf Glückskind gerichtet hielt oder auf den Horizont, während sie mit den anderen Frauen sprach, um sie dann mit einem einfachen: — Aber warum? dazu zu bringen, fast eine Faust lang weiterzureden, während Elga längst wieder etwas anderes betrachtete, das nichts mit dem Gespräch zu tun hatte. Sie konnte mehrere Dinge auf einmal tun. Sie war härter als zuvor, unnachgiebiger, daran bestand kein Zweifel. Aber für Eistaucher empfand sie nach wie vor Wärme, das erkannte er an der Art, auf die sie ihn ansah, er fühlte es an ihren Händen und daran, wie sie ihn nachts küsste. Anscheinend war sie ihm für ihre Rettung dankbar, obwohl Eistaucher nicht der Meinung war, dass er ihre Dankbarkeit verdiente, da er selbst hatte gerettet werden müssen; und letztendlich war es Elga gewesen, die ihn nach Hause gezogen hatte.
Aber Elga war ganz eindeutig auch Dorn dankbar und brachte das auch oft zum Ausdruck, indem sie dem alten Zauberer etwas ans Feuer oder zum Fluss hinunter oder ans Bett brachte: Kellen mit Suppe, Nadeln, Vogelhäute, Wassereimer, Leckerbissen von einem Beutetier. Eistaucher tat das Gleiche, wenn er daran dachte, und er sah, wie sehr Dorn sich über Elgas Dankbarkeit freute, sehr viel mehr als über die von Eistaucher, die er offenbar als nur recht und billig empfand. Eistaucher nahm sich das nicht zu Herzen, und ohnehin erschien es ihm nur angemessen. Dorn war gekommen, um sie zu retten, und jetzt würde Eistaucher wohl der nächste Schamane des Rudels werden, also brauchte er Dorn als Lehrmeister. Das, was er jetzt empfand, war das genaue Gegenteil von dem, was er nach seiner Wanderschaft empfunden hatte, was ihm einmal mehr das Gefühl verursachte, in eine andere Welt gefallen zu sein. Und was Dorn und Elga betraf: Zweifellos war es schön für Dorn, wenn sie nett zu ihm war, angesichts der Behandlung, die ihm Heide angedeihen ließ, ihrer ständigen Sticheleien. Es war etwas ganz anderes, wenn eine Frau lieb und freundlich zu einem war, noch dazu eine junge, kräftige Frau mit einem dicken Kinderbauch.
Außerdem: Elga dachte nie daran, was Knack widerfahren war. Sie sah Knacks Geist nicht, und falls sie ihn doch sah, dann ließ sie sich nichts davon anmerken. Sie verschloss sogar die Augen davor, wie Knacks Geist Dorn beeinflusst hatte, oder auch Eistaucher. Sie sprach überhaupt nicht von der Vergangenheit. Das mochte Dorn an ihr.
Denn für Dorn war die Vergangenheit noch immer lebendig. Eistaucher sah es ihm an. Es gab eine Traumwelt, in die Dorn manchmal einfach hineinstolperte, selbst wenn er gerade hellwach war. Immerhin trieb Knacks Geist sich nicht mehr am Rande des Feuerscheins herum, seit sie seine Knochen im See beigesetzt hatten.
Doch dann brachte Falke eines Tages ein Geweihstück mit, das er auf dem kurzen Pass gefunden hatte, und reichte es in Dorns Beisein Eistaucher. Im selben Moment, in dem Eistaucher es sah, riss er es ihm weg und versuchte zu verhindern, dass es Dorn unter die Augen kam. Unglücklicherweise zog die schnelle Bewegung Dorns Aufmerksamkeit auf sich, und bevor Eistaucher das Stück in seiner Faust verbergen konnte, hatte auch Dorn es gesehen: Es ähnelte Knacks Leichnam, nachdem sie seine Beine gegessen hatten, mit den gekappten Schenkeln an einem Ende und dem langen Kopf am anderen. Die Ähnlichkeit war grob, aber sofort zu erkennen. Und auch Dorn erkannte sie. Ein harter Zug legte sich um seine Mundwinkel. Knacks Geist hatte ihm einen Gruß gesandt.
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