Sie wanderten den gewundenen Pfad hinab, den sie im oberen Bereich der Nordschlucht angelegt hatten. Durch eine Spalte zwischen Felsbrocken, die ihnen bis über die Köpfe reichten, hinunter zur Hünenstatt, wo sie hinter ihrem Sichtschutz abwarten würden, was der Wind ihnen zutrug.
Die Hünenstatt war ein Gewirr von großen, harten Felsbrocken, zwischen denen kaum kleinere Steine lagen. Von der blanken Felswand darüber bröckelten immer wieder Teile ab, und die Neigung am Hang sorgte dafür, dass sie sich nach Größe sortierten, wobei die größten immer am weitesten rollten. Manche hausgroßen Felsen waren so weit gekullert, dass sie sich schließlich in die Wiese gegraben hatten, die sich halbmondförmig entlang des Flusses erstreckte.
Oben in einem dieser Felsen gab es einen flachen Einschnitt, der aussah, als hätten ihn die Riesen extra gemacht, damit Menschen sich darin verstecken konnten. Sie zogen sich an mehreren Vorsprüngen hoch, über die man auf die Hangseite des Felsens klettern konnte. Der Einschnitt bot genug Platz, damit sie bequem nebeneinander stehen konnten, und von ihrem Aussichtspunkt konnten sie bis zum anderen Ende der gekrümmten Wiese sehen. Die Talwände waren steil und leicht mit Kieferngestrüpp bewaldet. Der Wind wehte wie meistens am Morgen flussabwärts, wenn also Tiere das Tal hinabkamen, würden sie weder die Männer noch den toten Hasen riechen. Für einen Wintertag war es warm, allerdings frostig in den Schatten. Man hörte glucksende Geräusche des Bachs, der unter dem Eis langsam dahinrann, vor allem das leise Plätschern, wo das Wasser am Rand der Wiese zutage trat.
Falke übernahm als Erster den Posten des Spähers, und schon bald stieß er ein Zischen aus, worauf die Männer absolut still wurden und neben ihn glitten, um selbst etwas zu sehen.
Da waren die Bisons, eine kleine Herde, die Köpfe haarig, das Fell struppig vom Winter. Neun Bison-Frauen folgten dem Leitbullen. Weil die Frauen keine derart gewaltigen Köpfe hatten, wirkten ihre Körper ausgewogener. Es waren wunderschöne Geschöpfe, das dichte, bräunliche Fell nur wenig dunkler als das eines Löwen, ihre haarigen Köpfe dunkelbraun, beinahe schwarz. Gemächlich wiederkäuend zogen sie dahin, während das Sonnenlicht in ihre Leiber hineinströmte, sodass sie leuchteten in ihrer Schwere, über den Schnee schwebten wie Besucher aus einer Welt, in der alles dichter war. Traumgeschöpfe, die die wache Welt durchwanderten.
Auf dreien von ihnen hatten sich Vögel niedergelassen, die geduldig im Fell der Tiere herumpickten, auf der Suche nach den Fliegenlarven, die dort gediehen. Bei diesen Larven handelte es sich um eine Köstlichkeit, wie die Männer sehr wohl wussten. Eistaucher lief beim Anblick der Tiere ohnehin schon das Wasser im Mund zusammen.
Doch anscheinend hatten sie die Anwesenheit der Männer bemerkt. Ihre Schwänze waren erhoben, und mehrere von ihnen schissen oder pinkelten in dicken, gelben Bögen, die in der Morgensonne dampften. Die majestätischen Tiere sahen und hörten nicht besonders gut, aber sie hatten gute Nasen. Und wenn die Menschen sich ihnen auf Sichtweite näherten, schienen die Bisons das oft einfach zu wissen. Das machte die Jagd schwierig.
Auch diesmal war es so. Sie hielten sich von den Felsen aus gesehen an der gegenüberliegenden Seite der Wiese. Doch selbst dort waren sie noch in Speerwurfweite. Mit ihren Speerschleudern konnten sie die Bisons gerade so erreichen, was allerdings bedeutete, dass ein Treffer reines Glück sein würde.
Dorn flüsterte: — Sollen wir es versuchen?
Falke nickte. So leise wie möglich steckten sie die Speere mit den Kerben auf ihre Schleudern. Sie mussten sich leise umgruppieren, um einander nicht im Weg zu stehen.
— Achtet darauf, dass ihr niemanden mit euren Schleudern trefft, flüsterte Dorn wie immer, worauf sich alle vergewisserten, dass sie genug Platz zum Ausholen hatten, und einander zunickten: Sie waren wurfbereit. Wie Katzen vor dem Sprung verlagerten sie ihr Gewicht und erspürten mit den Füßen, wie genau sie werfen mussten. Dann flüsterte Falke: — Zielt alle auf den Bullen ganz vorne. Achtung — fertig — Wurf! Und alle gleichzeitig warfen sie stumm ihre Speere.
Die meisten Bisons rannten davon, als die Speere durch die Luft auf sie zusausten, aber zwei der Wurfgeschosse bohrten sich in den großen Bullen, und die Männer riefen — Ja!, oder — Ha!, oder — Danke!, als sie das sahen.
— Ach, schon wieder habe ich meinen Wurf verrissen, klagte Achtlos, — ich bin mit dem Handgelenk angestoßen.
Doch Dorn hielt sich mit der rechten Hand den Steiß. — Das hat wehgetan, sagte er mit verwirrter Miene. — Anscheinend habe ich zu fest geworfen und mir einen Muskel gezerrt.
— Tut uns leid für dich, sagten die anderen.
Viele der Bisons befanden sich inzwischen dort, wo der Bach unter dem Eis hervor von der Wiese floss, stampften voll Unbehagen auf und ab und blickten sich zu dem getroffenen Bullen um. Der hatte den Kopf gesenkt und ging zögerlich weiter, wie um herauszufinden, wozu er noch in der Lage war. Blut rann ihm aus dem Mund, und einige der Männer riefen — Ja, weil das bedeutete, dass einer der Speere oder beide sich ihm zwischen den Rippen hindurch in die Lunge gebohrt haben mussten und es mit ihm zu Ende ging. Die Männer klopften einander auf die Schultern, während sie gespannt das weitere Geschehen verfolgten.
Sie hatten noch immer ihre Kurzspeere, und es war nicht weiter schwer, von ihrem Felsbrocken hinunterzukraxeln und das tödlich verwundete Tier mit einem Ansturm und mehreren Stichen in Rippen und Eingeweide zur Strecke zu bringen. Einer dieser Stiche traf ins Herz, worauf das große Tier ächzend in die Knie brach, zur Seite kippte und starb.
Den restlichen Tag über hatten sie damit zu tun, dem Tier die Haut abzuziehen, es zu zerlegen, die Hinterläufe zu entbeinen und alles zum Tragen vorzubereiten. Dorn brachte ein Feuer in Gang, und sie aßen das übliche Beutemahl aus Leber und Nieren. Als sie müde wurden, wechselten sie sich bei ihren Aufgaben ab, hielten jedoch immer wachsam nach Löwen oder Hyänen Ausschau. Eine kleine Rabenwolke kreiste über ihnen, sie würden also nicht lange allein bleiben. Es war wichtig, den Bison so schnell wie möglich in seine Einzelteile zu zerlegen, doch trotz der Arbeit waren sie gut gelaunt. Nur Dorn blieb schweigsam.
— Geht es dir gut?, fragte Eistaucher ihn.
— Ich weiß nicht. Ich habe mir wohl etwas gezerrt.
Dorn hielt nach Knack Ausschau, konnte ihn jedoch nirgends ausmachen. Eistaucher spielte mit dem Gedanken, ein Bildnis von Knack aus einem Geweihstück zu schnitzen und es behutsam im Wasser des Teichs zu versenken, in dem sie ihn beigesetzt hatten. Aber andererseits stieß er dabei vielleicht einen von Knacks Knochen an und rüttelte den Alten auf. Und der Gedanke, wie Knacks Schädel mit den vertrauten Zähnen aus dem Wasser zu ihm emporblicken würde, war nicht gerade einladend. Aber wenn er Knack irgendwie fernhalten wollte … es musste doch etwas geben, das er tun konnte. Wenn dies, dann das: Es war ein kleiner Strudel von Wenns, in dem er allzu leicht zu kreiseln begann und aus dem ihn letztlich immer wieder das schreckliche Bild von Knacks Schädel, der aus dem Wasser zu ihm emporblickte, hinausschleuderte. Geh fort von hier, an einen anderen Ort!
Es war also besser, wenn er sich ein wenig von Dorn fernhielt.
Sie überstanden den Winter und mussten auch im Frühjahr nicht allzu sehr hungern. Doch irgendwann im Laufe jenes Winters fiel Eistaucher auf, dass Dorn keine Dinge mehr warf und dass er es vermied, den rechten Arm über die Schulter zu heben. Außerdem magerte er im Hungermonat stärker ab als der Rest von ihnen. Nun war er wirklich ein alter schwarzer Schlangenkopf, dem Löwenzähne von den wenigen Haarsträhnen baumelten, die ihm hinter den Ohren und im Nacken verblieben waren. Er schien durch einen Schleier hindurchzublicken. Elga, die neue Kleine und Glückskind am Feuer beobachtete er mit einem höchst seltsamen Gesichtsausdruck.
Читать дальше