Falke und Moos starrten ihn an. Falke sagte: — Eistaucher, du bist der Einzige im ganzen Rudel, der nicht die Hosen voll hat vor Heide.
Moos und Falke lachten, als sie Eistauchers überraschte Miene sahen. Die beiden waren sich sicher, dass niemand Einwände erheben würde, wenn sie Heide mitnahmen, obwohl alle wussten, wie nützlich sie war. Aber anscheinend war sie zugleich zu gehässig, zu sonderlich. Eistaucher war erfreut, das zu hören, denn er wollte seine Heide nicht missen.
Moos wies darauf hin, dass so eine Teilung von Rudeln immer wieder vorkam, dass es sich nicht um ein schlimmes Zerwürfnis handeln musste. Sie konnten sich einfach in einer weiteren Balme ein Stück flussaufwärts einrichten, damit es in ihrem Hauptlager nicht mehr so voll war. Wenn Schiefer und Steinbock jemals ein paar kräftige Arme brauchten, dann konnten die Jüngeren vorbeikommen und ihnen helfen.
Falke hörte nickend zu. Einmal mehr erkannte Eistaucher, dass Moos Vorschläge machte und Falke Anweisungen gab.
— Aber was machen wir, wenn sie Eistaucher wollen?, fragte Falke.
Eistaucher würde der Schamane beider Rudel sein, so wie Quarz der Schamane der drei Löwenrudel war. Viele der Schamanen beim großen Fest hielten es so. Während Moos das sagte, sah er zu Eistaucher, um sich zu vergewissern, ob er recht hatte.
Eistaucher nickte. — So möchte ich es machen, sagte er. — Weil ich nämlich weiter in der Höhle malen will.
Sie erreichten das Lager, und Moos sagte: — Lasst uns später weiter darüber reden. Es gibt keinen Grund zur Eile. Allerdings sollten wir es wohl tun, bevor wir beginnen, unsere Wintervorräte anzulegen.
— Später, sagte Falke.
Dorn lag lang hingestreckt auf Heides Pelzen, gegen das große, am Hang verkeilte Stück Holz gelehnt. Die meiste Zeit über schlief er.
Einmal halfen Eistaucher und Elga ihm dabei, zum Scheißen an den Hang zu gehen, doch es bereitete ihm Schmerzen, und als sie ihn ins Lager zurückbrachten, sagte er: — Das war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich geschissen habe. Ich werde es vermissen.
Von da an redete er fast gar nicht mehr. Wenn er sein Schweigen doch einmal brach, dann brummelte er Worte vor sich hin, die niemand verstand. Mithilfe eines Holunderzweigs, aus dem er einen Trinkhalm gemacht hatte, ließ Eistaucher ihn Wasser aus einem Holzbecher saugen. Manchmal presste Dorn die rissigen Lippen dabei so fest auf den Trinkhalm, dass Eistaucher ihn nicht mehr aus seinem Mund bekam. Weil Heide nicht wollte, dass Dorn zu viel auf einmal trank, musste Eistaucher darauf achten, die richtige Menge Wasser in den Becher zu tun, denn wenn Dorn einmal angefangen hatte, trank er den Becher unweigerlich leer. Eistaucher hielt seinen Durst für ein gutes Zeichen. Wenn Dorn schlief, dann betrachtete Eistaucher manchmal sein eingefallenes Gesicht. Was immer den alten Schamanen plagte, zehrte an den Fettpolstern hinter seinen Augen und ließ sie tief in den Schädel sinken. Seine Nase sah immer mehr wie ein Adlerschnabel aus, und wenn er schlief, dann krümmten sich seine Zehen und Finger. Er trocknete aus. Das Ding in ihm drin fraß ihn von innen heraus auf, und auch er selbst zehrte auf dem letzten Stück seines Weges an seiner Substanz. — Moment mal, ich sehe etwas, flüsterte er Eistaucher einmal zu. — Der Fluss reißt die Dinge um mich herum fort.
— Eine Insel, sagte Eistaucher hastig.
— Ja. Dorn lächelte ein kleines Schlangenlächeln. Er betrachtete eine Weile Eistauchers Gesicht und sagte dann: — Als du auf deiner Wanderschaft warst, hat dich da etwas gejagt? Du wolltest es mir nie erzählen. Allerdings wollte ich dir schon lange etwas sagen: Ich glaube, Quarz setzt manchmal seinen Löwenkopf auf und zieht nachts los, um den Lehrlingen anderer Schamanen einen Schrecken einzujagen. Er ist ebenfalls bei Pfeifhase in die Lehre gegangen, dem Ältesten, und das hat ihn gemein werden lassen. Wenn dich also etwas gejagt hat, dann war das vielleicht er.
— Ah, sagte Eistaucher.
Später schüttelte Dorn Heides Bemühungen, ihm zu helfen, ab. — Ich habe mich selbst oft genug als Heiler betätigt, sagte er. — Ich weiß, wenn etwas nicht funktioniert. Du kannst mich nicht zum Narren halten.
Einmal sah er Heides Gesicht über sich und klagte: — Ich will nicht, dass es jetzt geschieht. Ich bin erst zweimal zwanzig Jahre alt.
— Was soll das heißen, erst?, erwiderte Heide.
— Ha! Dorns Lachen klang schmerzvoll. — Du hast leicht reden. Wie alt bist du, vier Zwanzige? Fünf?
Sie schüttelte den Kopf. — Viele Zwanzige. Aber die sind alle verflogen.
— Ha, sagte Dorn erneut und verfiel dann wieder in Schweigen.
Er schlief weiterhin sehr viel. Heide verabreichte ihm beruhigende Tees. Tage vergingen, ohne dass Dorn etwas aß. Eistaucher war zunehmend verblüfft darüber, wie lange das so ging. Es war wie bei einem Bären im Winterschlaf. Dorn zeigte ein Durchhaltevermögen, das Eistaucher kaum mit ansehen konnte.
Ich bin der dritte Atem
Ich komme zu dir
Wenn dir sonst nichts geblieben ist
Wenn du nicht mehr weiterkannst
Aber trotzdem weitermachst
Jener äußerste Moment
Ruft den dritten Atem herbei.
Jedes Mal, wenn Dorn erwachte und sich umsah, wurde Eistaucher von einer inneren Ruhe erfasst. Der Blick des Alten machte ihn hellwach und zugleich entrückt, rückte ihn an den richtigen Platz in der Welt. Ich half ihm dabei.
Dorn bat ihn manchmal darum, die eine oder andere Geschichte vorzutragen, die er ihm beizubringen versucht hatte. Eistaucher tat sein Bestes, ohne sich dabei allzu große Gedanken um Einzelheiten zu machen. Ohne diese Sorge fiel ihm das Erzählen sehr viel leichter als früher. Es ging nur noch darum, auf den Punkt zu kommen, das zu erzählen, worauf es ankam, so von den Geschehnissen zu berichten, wie er sie aus Dorns Geschichten in Erinnerung hatte. Er erzählte die Geschichte des Bisonmanns, der sich eine Frau aus der Lachssippe genommen hatte; Dorns Tier war der Bison, während seiner Zeremonien trug er Pfeifhases alten, zerfledderten Bisonschädel, und als Eistaucher die Geschichte nun erzählte, fragte er sich, wie viel sie mit Pfeifhase zu tun hatte und mit Heide und mit Dorn.
— Nein, nein, fiel Dorn ihm ins Wort. — Vergiss nicht die Stelle, wie die Frau mit einem Bison davonrennt, bevor der Mann sich selbst in einen verwandelt. Wenn die Leute das nicht wissen, verstehen sie nicht, warum er das tut.
Später unterbrach ihn Dorn noch ein- oder zweimal, um die Geschichte selbst heiser und kurzatmig weiterzuerzählen.
Manchmal schien Dorn einzuschlafen, kaum dass Eistaucher zu der gewünschten Geschichte angesetzt hatte, doch wenn Eistaucher zu reden aufhörte, runzelte er die Stirn.
Als Eistaucher einmal mitten im Erzählen abbrach, umklammerte Dorn fest seine Hand.
— Ich habe nur dich, um all das weiterzugeben. Verstehst du? Du warst das Material, mit dem ich auskommen musste.
— Ich weiß.
— Deshalb darfst du es nicht vergessen.
Eines Morgens erwachte Dorn nach einer schlimmen Nacht, in der er nicht ein einziges Mal eine bequeme Schlafposition gefunden hatte. Sein Blick ging über das Lager, über die Hügel und blieb dann bei Eistaucher hängen.
— Ich werde schwächer. Ich spüre es.
An jenem Tag schlief er besser. Er trank alles Wasser, das Eistaucher ihm gab. Nachmittags sah er Eistaucher an und sagte:
— Du darfst die Geschichte des zehnjährigen Winters nicht vergessen. Und die Geschichte von Korban, der quer über das große Salzmeer geweht wurde und anschließend über das Eis im Norden nach Hause wanderte. Und auch nicht Pippas Geschichte von dem Mann, der nach Osten ging, um das Ende der Welt zu finden. Das sind meine Lieblingsgeschichten gewesen. Und du musst dir die Geschichte merken, wie der Sommer aus der anderen Welt in diese Welt geholt wurde. Und die von der Schwanenbraut, die erzählst du nämlich wirklich gut. Und die vom Bisonmann.
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