— Warum sollte ich?, fragte er sie.
Heide antwortete nicht. Sie ließ sich seine Felle an ihr Bett bringen und legte sie über einen Holzscheit, damit Dorn sich aufsetzen konnte. Sie wusste, dass das eine weniger schmerzvolle Haltung für ihn war, noch ehe er es ihr sagte. Sie stellte einen Wassereimer mit einer Kelle darin neben ihn und saß an seiner Seite, während er sich hin und her warf.
— Ich könnte versuchen, es abzulassen, sagte sie zu ihm, nachdem sie seine rechte Seite untersucht hatte.
— Tatsächlich? Plötzlich glomm Hoffnung in Dorns rot geränderten Augen auf.
— Ein Versuch kann nie schaden. Aber das Anstechen tut vielleicht weh.
— Mehr als jetzt kann es nicht wehtun.
Darüber schnaubte sie nur abfällig, doch am nächsten Morgen brachte sie ihn gemeinsam mit Eistaucher ans Flussufer hinunter. Sie befahl ihm, sich mit der linken Schulter auf die Lederseite eines Bärenpelzes zu legen, direkt am Ufer, wo er Hände und Füße ins kalte, schwarze Wasser halten konnte.
— Kühl dich so viel wie möglich, sagte sie.
Er hängte Füße und Hände in den Fluss. Heide wusch die Haut über der Ausbuchtung unter seinem Brustkorb und stach dann mit einer einzigen, flinken Bewegung eine Ahle hinein. Er zischte und bebte in dem verzweifelten Versuch stillzuhalten. Sie zog die Ahle heraus, wischte das Blut mit einem Stück Leder ab und steckte ein langes Rohr aus Holunderholz, das ihrem Blasrohr ähnelte, aber länger und schmaler war, in die Wunde. Dorn sog den Atem zwischen den Zähnen durch. Heide wies ihn an, sich auf den Bauch zu drehen, sodass das Rohr von der Wunde aus leicht nach unten zeigte. Er verlagerte das Gewicht und wälzte sich auf Brust und Bauch, wobei er Füße und Hände aus dem Wasser zog. Aus dem Rohr floss nun Blut. Heide sagte zu ihm: — Steck den Kopf ins Wasser und lass ihn unten, solange du die Luft anhalten kannst.
Er holte Atem, hielt die Luft an und tauchte den Kopf ins Wasser. Heide beugte sich über ihn und sog fest am Ende des Rohrs. Sie spuckte einen Mundvoll von Dorns Blut aus, saugte erneut und spie diesmal weißlichen Eiter aus, wenn auch nicht besonders viel. Dorn riss den Kopf aus dem Fluss, atmete mehrmals schnell ein und tauchte wieder ab. Heide saugte erneut an dem Rohr, ihre Wangen wurden dicht an ihren zahnlosen Kiefer gepresst. Dann spuckte sie noch ein wenig Eiter aus, doch viel mehr kam nicht nach. Mit ein paar Klopfern schob sie das Rohr etwas weiter hinein, worauf um Dorns Kopf herum Blasen aus dem Fluss aufstiegen. Er bäumte sich winselnd auf.
— Einmal noch!, sagte Heide barsch. — Jetzt funktioniert es.
Er tauchte den Kopf erneut unter, und sie saugte noch mehrmals kräftig, bekam jedoch kaum etwas heraus.
Schließlich hob er keuchend den Kopf aus dem Wasser, und sie zog das Rohr aus seiner Seite und drückte getrocknetes Moos auf den Einstich. Dorn kroch ans Ufer hoch, setzte sich hin und trocknete sich den Kopf mit einem sauberen Stück Leder ab. Heide wusch sich den Mund mehrmals mit Flusswasser aus.
— Und, hat es etwas gebracht?, fragte Dorn.
— Nicht viel, sagte sie und blickte dabei stromabwärts. — Es ist nicht wie Eiter. Es ist fester.
— Könntest du es rausschneiden?
Sie blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. — Es ist in deinem Brustkorb.
Dorn sah ihr lange in die Augen. — Scheiße, sagte er. Schwer atmend sah er auf den Fluss hinaus. Heide legte ihm die Hand auf das Knie, und er erwiderte ihren Blick. Eine ganze Weile sahen sie einander an.
— In Ordnung, sagte Dorn.
Von da an blieb er in Heides Bett.
Die meisten aus dem Rudel blieben dem Lager nun länger fern als sonst. Eistaucher verbrachte seine Zeit mit Elga und den Kindern unten am Fluss. Nachmittags, wenn Heide beim Kräutersammeln unterwegs war, besuchte er manchmal Dorn. Doch Dorn wollte nicht reden.
Eines Tages gingen Falke und Moos auf die Jagd, und Eistaucher beschloss, sie zu begleiten.
Es war ein kühler Morgen, und seine beiden Freunde verfielen in ihren gewohnten Laufschritt, sobald sie das Lager verlassen hatten. Eistaucher stellte fest, dass er ohne Schwierigkeiten mithalten konnte; inzwischen konnte er auf dem linken Bein wieder rennen wie seit seiner Wanderschaft nicht mehr, indem er sich über den Fuß hinweg abstieß, als trüge er noch immer seinen Holzstiefel, in einer Art Humpelsprung. In vielerlei Hinsicht fühlte er sich stärker und schneller denn je, und das steife Bein war für ihn wie ein fester Wanderstock, den er mit Kraft aufsetzte. Er krachte durchs Unterholz, tanzte über Steine und Geröll hinweg und empfand dabei ein ihm völlig neues Gefühl der Geschwindigkeit. Als ihm das bewusst wurde, übernahm er die Führung und ließ dem Gefühl freien Lauf.
Als er die beiden überholte, erkannte er, dass er für sie ihr dritter Freund war, der Wanderstock zu den zwei Beinen. Aber sie kannten ihn gut, und er kannte sie. Und als sie ihn vorbeirennen sahen, grinsten sie, überrascht, aber erfreut darüber, dass sie nur unter Schnaufen mit ihm mithalten konnten. Bereitwillig folgten sie ihm über den Kurzen Pass und hinunter zur Wiese in der Oberen Klamm. Auf dem letzten Hang ermahnten sie einander zur Stille und rannten lautlos weiter, achteten dabei peinlich auf jeden Tritt. Die Münder hielten sie weit geöffnet, um auch beim Atmen keine Geräusche zu machen. Nachdem sie eine Weile still dahingelaufen waren, schienen ihre Leiber in Flammen zu stehen.
Und während sie so rannten, trafen sie auf eine kleine Herde Gämsen, die am Bach in der Wiese tranken, und bei dem Anblick warfen sie sofort ihre Speere, die sie bereits auf die Speerschleudern gesteckt hatten. Federnd flogen die Wurfgeschosse durch die Luft und trafen alle drei dieselbe Gams. Als sie bei ihr ankamen, war das Tier bereits tot. Sie johlten und dankten ihr und machten sich daran, sie zu zerlegen, und Eistaucher schnitt mit seiner Klinge so ordentlich wie Heide und so sicher wie Dorn. Sie erledigten ihre Arbeit mit sauberer, flinker Sorgfalt.
Auf dem Heimweg wurden sie müde, sie kämpften sich weiter, und der zweite Atem kam zu ihnen. Auf dem Buckel schleppten sie das Fleisch über den Kurzen Pass und durchs Obertal bis zurück zum Lager, gebeugt unter der Last, aber in stolzem Triumph. Auf dem Heimweg redeten sie nur wenig miteinander; den ganzen Tag über sprachen sie kaum.
Als sie sich dem Lager näherten, sagte Eistaucher: — Erinnert ihr euch noch daran, wie wir früher zusammen gejagt haben? Wie ich der Schnellste war, der beste Jäger von uns dreien?
— Anscheinend bist du das immer noch, bemerkte Moos. — Diese Jagd war wirklich nicht schlecht.
— Nein, sagte Eistaucher. — Das war nur heute. Ihr seid jetzt die Jäger. Aber hört mal. Elga hat mir davon erzählt, wie die Dinge bei den Frauen laufen und zwischen Donner und Blauhäher und Schiefer und Steinbock. Sie sagt, dass es schlimmer wird. Das Ganze gefällt ihr gar nicht, und sie glaubt auch nicht, dass es wieder besser wird. Deshalb überlege ich, ob wir nicht nach Westen gehen und unser eigenes Rudel gründen sollten. Vielleicht habt ihr ja auch schon darüber nachgedacht.
Falke und Moos wechselten einen Blick. — Red weiter, sagte Falke.
— Wir sind inzwischen zu viele. So viele, dass Schiefer und Steinbock das Rudel während des Frühjahrs nicht ernähren können. Und außerdem mögen sie euch nicht.
— Dich mögen sie auch nicht, bemerkte Moos.
— Das stimmt, aber ich begleite euch ja auch. Und ich bringe Heide dazu mitzukommen. Und sonst nur unsere Familien.
— Dann bleibt kaum noch etwas von diesem Rudel übrig.
— Da bin ich mir nicht so sicher, erwiderte Eistaucher. — Schiefer und Steinbock werden mit einem kleineren Rudel, nur mit ihren Verwandten und denen, die ihnen am nächsten stehen, gut zurechtkommen. So haben sie weniger Mäuler zu stopfen, und alle kommen miteinander aus. Das Einzige, was mir Sorgen macht, ist, was sie davon halten werden, wenn wir Heide mitnehmen.
Читать дальше