Eistaucher nahm das Geweihstück mit und ignorierte entschlossen die kleinen Kerben, durch die man Hals und Schritt herausarbeiten und eine Figur in Form von Knacks Leichnam daraus hätte machen können. Stattdessen bearbeitete er es mit seinem Stichel, bis es sich spalten ließ, und machte dann Nadeln für Elga, Heide und Salbei daraus. Das war erledigt.
Andererseits konnte man es auch so sehen, dass Knacks Geist sich von nun an immer unter ihnen befand, in die Nähte ihrer Kleidung eingenäht wurde und sie gelegentlich sogar in die Daumen stach. Eistaucher begriff, dass er das Geweihstück einfach im Wald hätte verlieren oder singend bei Knacks Knochen im Teich versenken sollen. Er hatte nach wie vor nicht genug Übung im Umgang mit Geistern, um zu erkennen, wie geschickt sie manchmal vorgingen.
Dorn, der viele Jahre mit Geistern verkehrt hatte, war sich dessen allerdings sehr wohl bewusst; und als Eistaucher mit dem Geweihstück davongeeilt war, hatte seine Miene verraten, dass man einem Geist, der einen heimsuchen wollte, nicht entrinnen konnte. Man konnte nur sein Bestes tun, um ihn zu beschwichtigen, doch letztlich tat der Geist, was er wollte.
Und so ging Dorn mit gesenktem Kopf und benahm sich friedfertiger denn je. Besondere Aufmerksamkeit ließ er den Kranken zukommen, die er zwar förmlich und distanziert, aber mit Hingabe und Sorgfalt pflegte. Als Feuerfürchter sich ständig übergeben musste, lauschte Dorn auf seine Atemgeräusche und beriet sich mit Heide, bevor er seine Heilungszeremonie durchführte; und Heide gegenüber war er bei dieser Unterredung nicht weniger aufmerksam als gegenüber Feuerfürchter. All seine Zeremonien vollführte er mit besonderer Sorgfalt. Er zählte die Monate mit fein säuberlich in seinen Jahresstock geschnitzten Kerben. Er machte seine alten Witze. Er ließ die Kinder morgens ihre Lieder und Rätsel aufsagen.
Sein Verhalten war völlig undornig, als wäre er mit Elga, die kurz vor dem Gebären stand, und mit Glückskind zwischen den Füßen trotz all seiner Grübelei zufrieden. Und doch, eines Nachts, als das Feuer heruntergebrannt war und er auf dem Weg zu seiner Schlafstatt war, unterdrückte er einen Schrei und wich zurück. Eistaucher sah das von seinem eigenen Bett aus und rief: — Was ist?, ehe er sich die Worte verbeißen konnte.
Dorn antwortete nicht. Er wich mit vorgestreckten Händen zurück und starrte auf seine leere Schlafstatt. Eistaucher versuchte, einen Seitenblick darauf zu werfen, weil er nicht wirklich sehen wollte, was sich darin befand. Für ihn sah Dorns Bett leer aus. Aber nicht für Dorn. Eistaucher bewegte Schlimmbein ein bisschen und spürte nichts darin. Knack war nicht in ihm drin.
Eistaucher wusste nicht, was er tun sollte. Weder hatte er Geschichten über eine solche Situation gehört noch war er sich darüber im Klaren, was Dorn von ihm erwartete. Wahrscheinlich wollte der Schamane, dass er sich aus der Sache raushielt. Vielleicht gab es etwas, das Dorn zu Knack sagen konnte, etwas, das er tun konnte …
Doch ihm schien nichts einzufallen. Seine Lippen zuckten wie ein Fisch auf dem Trockenen, formten lautlos Worte, genau wie Fische es taten. Eistaucher hatte ihn noch nie derart überrumpelt gesehen.
Schließlich riss Dorn sich zusammen, richtete sich auf und seufzte schwer. Er wedelte mit dem Handrücken, wie er es sonst tat, wenn ihm Kinder im Weg standen. — Was ist?, klagte er mit leiser Stimme. — Was soll ich denn machen? Sag es mir einfach, dann mache ich es.
Dann stand er eine ganze Weile bloß da. Schließlich ging er wieder ans Feuer. Eistaucher schlief ein, bevor Dorn zurückkam. Er hatte Knack weder gesehen noch auch nur die leiseste Regung verspürt.
In jenem Winter begannen die Leute davon zu reden, dass Dorn vom Glück verlassen sei. Die anderen wussten nichts von Knack und sahen ihn auch nicht, aber Dorns Verhalten fiel ihnen auf, und sie redeten. Natürlich nicht, wenn er in Hörweite war, obwohl er sie gelegentlich doch hörte. Dann drehte er nur den Kopf zur Seite, wobei er manchmal gedankenverloren nickte. Die Jäger redeten oft davon, dass das Glück einen verließ, denn das war der einzig mögliche Umgang damit; man musste sich dem Narsuk stellen, und wenn es einem selbst passierte, musste man seinen Freunden davon erzählen, damit sie einen für eine Weile führten und einem halfen, und dann geschah vielleicht etwas, wodurch das Glück zu einem zurückkehrte.
Doch für Schamanen lagen die Dinge anders. Sie drangen in Reiche vor, die weit jenseits von Glück und Pech lagen, in Träume, in den Himmel, in Tiere und in Mutter Erde. Sie drangen in Geister ein, und Geister drangen in sie ein. Dafür brauchten sie natürlich Glück, oder zumindest etwas Ähnliches; und wenn sie ihr Glück verloren, machte das nicht nur ihnen die Arbeit als Schamane schwer, auch das ganze Rudel konnte in Mitleidenschaft gezogen werden. Deshalb gefiel den Leuten ganz und gar nicht, was sie bei Dorn beobachteten, und wer darüber redete, dem sagte man, dass er den Mund halten solle.
In einer kalten Winternacht wurde jemand Neues ins Wolfsrudel geboren. Ein Mädchen der Lachssippe. Die Männer saßen ums Feuer und rauchten Dorns Pfeife. Dorn sang eine lange Fassung der Geschichte von der Schwanenfrau, lachte fröhlich über seine eigenen Witze, und wann immer er Eistaucher einen Klaps gab, fühlte es sich liebevoller denn je an.
Eistaucher verbrachte viel Zeit mit Elga, Glückskind und der neuen Kleinen, und er ging Dorn zur Hand. Wenn er nicht beschäftigt war, schnitzte er Figuren aus Geweihen und kleinen Stücken Mammutbein, die sie beim Fest bekommen hatten. Manche waren Spielzeuge für das neue Kind. Elga freute sich darüber, doch das neue Kind ermüdete sie auch, und sie war damit beschäftigt, was bei den Frauen vorging.
— Ist alles in Ordnung?, fragte Eistaucher, wenn er ihr Gesicht sah.
— Nein, antwortete sie dann. — Aber das ist eine Frauenangelegenheit, du kannst nichts daran machen. Donner und Blauhäher merken langsam, dass niemand sie mehr mag. Genau genommen waren sie noch nie beliebt, aber sie glauben, das sei etwas Neues und dass es meine Schuld sei. Was auch stimmt. Inzwischen ist es zu spät für sie, aber das wird ihnen jetzt erst klar, und sie sind wütend darüber und machen alles noch schlimmer, um es besser zu machen. Was nie funktioniert. Aber auf die eine oder andere Art müssen wir da durch. Mach du dir keine Gedanken. Ihr werdet euch vielleicht eines Tages an einer Lösung beteiligen müssen, du und deine Freunde. Aber im Moment reicht es, wenn du dich um Dorn kümmerst.
— Das mache ich.
Bevor er die kleinen geschnitzten Figuren dem Kind zum Spielen gab, brachte er sie zu Dorn und fragte ihn, was er von ihnen hielt. Auch bei seinen Felszeichnungen an der Obertalwand und seinen Holzkohlezeichnungen auf den Felsen im Fluss bat er Dorn, mitzukommen und sie sich anzusehen. Dorn ging dann mit ihm zum Fluss hinab, Eistaucher lief dort über das Eis und machte sich an die Arbeit. Linie für Linie, Tier für Tier.
Dorn saß derweil an einem kleinen Feuer, das er entfacht hatte, und begutachtete Eistauchers Arbeit. Wenn sie am Ende eines solchen Tags ins Lager zurückkehrten, holte er oft einen großen, glatten Schieferstein und eine Stange mit Bienenwachs vermischten Erdbluts hervor und gab beides Eistaucher, um ihm anschließend Tiere und Haltungen anzusagen, die er als Dreistriche malen sollte:
— Eine Hyäne, die dich über die Schulter anblickt.
— Die Hörner eines Steinbocks von hinten.
— Die Hörner eines Steinbocks direkt von vorne.
— Ein Elkbulle, erschöpft nach der Brunst.
— Ein junges Nashorn, das im Schlamm feststeckt.
— Eine Löwin auf der Jagd. O ja, das ist hübsch. Genau so sieht sie einen an, nur ein Punkt und ein Tränenkanal.
— Ein Hengst, der den Kopf in den Nacken wirft, um einen Rivalen einzuschüchtern, der sich seinen Frauen nähert. Ah, gut gemacht. Pferde beherrschst du inzwischen wirklich hervorragend.
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