Wohlhabende oder erfolgreiche Konvertiten wurden vom Adel und der Mittelklasse akzeptiert und heirateten in alte Christenfamilien ein. Und auch Bernardo Espina hatte sich mit einer Christin vermählt, mit Estrella de Aranda, der Tochter einer adligen Familie. In der Euphorie, die diese Aufnahme in die Familie und seine neue religiöse Verzückung mit sich brachten, hatte er - gegen besseres Wissen - gehofft, daß seine Glaubensbrüder ihn als »vollendeten Juden«, der ihren Messias angenommen hatte, akzeptieren würden, aber er war auch nicht überrascht, als sie ihn weiterhin als Hebräer verspotteten.
Bereits als Espinas Vater noch ein junger Mann war, hatte der Magistrat von Toledo einen Erlaß veröffentlicht:
Wir erklären hiermit, daß die sogenannten conversos, Nachkommen verderbter jüdischer Ahnen, von Rechts wegen für niederträchtig und gemein erachtet werden müssen, für ungeeignet und unwürdig, innerhalb der Grenzen der Stadt Toledo und seiner Gerichtsbarkeit ein öffentliches Amt zu bekleiden oder ein Lehen zu erhalten oder Eide oder Urkunden zu beglaubigen oder sonstwelche Machtbefugnisse über wahre Christen der Heiligen Katholischen Kirche auszuüben.
Heute nun, an diesem Sommertag des Jahres 1489, ritt Bernardo an mehreren klösterlichen Gemeinschaften vorbei, einige kaum größer als die Abtei zur Himmelfahrt Mariä, andere von der Größe kleiner Dörfer. Unter der katholischen Monarchie war in Spanien der Dienst in der Kirche sehr beliebt geworden. Segun-dones, die jüngeren Söhne adliger Familien, die nach dem Ältestenrecht von der Erbfolge ausgeschlossen waren, wandten sich dem religiösen Leben zu, in dem ihnen dank ihrer Familienverbindungen ein schneller Aufstieg sicher war. Die jüngeren Töchter derselben Familien wurden wegen der riesigen Mitgift, die nötig war, um weibliche Erstgeborene zu verheiraten, oft gezwungen, Nonnen zu werden. Und selbst die ärmsten Bauern zog es in den Kirchendienst, denn ein Priesteramt mit einer Pfründe stellte für viele die einzige Möglichkeit dar, der erdrückenden Armut der Leibeigenschaft zu entfliehen.
Die wachsende Zahl klösterlicher Gemeinschaften hatte zu heftigen und häßlichen Kämpfen um finanzielle Unterstützung geführt. Das war auch der Nährboden für die Auseinandersetzung um die Reliquie der heiligen Anna. Für die Abtei zur Himmelfahrt Maria mochte sie ein Glücksbringer sein, aber der Prior hatte Bernardo erzählt, daß es Ränke und Intrigen unter den mächtigen Benediktinern, den verschlagenen Franziskanern und den aufstrebenden Hieronymiten gebe - und allein Gott wisse, unter wie vielen anderen -, die allesamt in den Besitz dieser Reliquie der Heiligen Familie kommen wollten. Espina war unbehaglich zumute, denn er befürchtete, zwischen diese mächtigen Fraktionen zu geraten und einfach zerquetscht zu werden - so wie es offenbar auch mit Meir Toledano geschehen war.
Als erstes machte sich Bernardo daran herauszufinden, was dem Jungen in den letzten Stunden vor seiner Ermordung widerfahren war.
Das Haus von Helkias dem Silberschmied lag zusammen mit mehreren anderen Gebäuden zwischen zwei Synagogen. Seit die Hauptsynagoge von der Heiligen Mutter Kirche übernommen worden war, feierten die Juden ihre Gottesdienste in der Samuel-Halewi-Synagoge, einem prachtvollen Gebäude und Ausdruck einer Zeit, in der das Leben noch einfacher für sie alle gewesen war.
Die jüdische Gemeinde war so klein, daß jeder wußte, wer unter ihnen vom Glauben abgefallen war, wer bloß so tat und wer Jude geblieben war. Kontakt mit Neuen Christen pflegte man nur, wenn es unvermeidlich war. Und trotzdem hatte vier Jahre zuvor ein verzweifelter Helkias den Arzt Espina aufgesucht.
Seine Gattin Esther, eine wohltätige Frau und Sproß der großen Rabbinerfamilie der Salomos, war plötzlich immer schwächer geworden, und der Silberschmied hatte nur noch den einen Gedanken gehabt, die Mutter seiner drei Söhne zu retten. Bernardo hatte sich große Mühe mit ihr gegeben, er hatte alles getan, was in seiner Macht stand, und auch Christus um ihr Leben angefleht, so wie Helkias zu Jahwe gebetet hatte. Aber er hatte sie nicht retten können. Sie war gestorben, möge Gott ihrer ewigen Seele gnädig sein.
Jetzt eilte er an Helkias' Haus des Unglücks vorbei, ohne innezuhalten, denn er wußte, daß bald zwei Mönche der Abtei zur
Himmelfahrt Mariä einen burro hierherfuhren würden, der die sterblichen Überreste des erstgeborenen Sohnes heim zu seinem Vater trug.
Frühere Generationen hatten die Synagogen vor Jahrhunderten erbaut und dabei die uralte Vorschrift beachtet, daß ein Gotteshaus an der höchsten Stelle der Gemeinde errichtet werden müsse. So hatten sie als Bauplatz das steile Hochufer über dem Fluß Tajo gewählt.
Bernardos Stute scheute, als sie sich der Kante zu sehr näherten.
Mutter Gottes, dachte er und zog die Zügel an; und als das Pferd sich wieder beruhigt hatte, fiel ihm die Reliquie ein, mit der das alles begonnen hatte.
»Großmutter des Erlösers!« rief er, wider Willen schmunzelnd.
Er stellte sich vor, wie Meir ben Helkias hier auf seinem Weg zur Abtei ungeduldig auf den Schutz der Dunkelheit gewartet hatte. Angst hatte der Junge gewiß keine gehabt. Und Bernardo erinnerte sich an manch einen Abend seiner eigenen Jugend, als er mit seinem Vater, Jakob Espina, auf diesem Hochufer gestanden und den sich verdüsternden Himmel nach dem Funkeln der ersten drei Sterne abgesucht hatte, die das Ende des Sabbat ankündigten.
Er schob den Gedanken beiseite, wie er es mit jeder verstörenden Erinnerung an seine jüdische Vergangenheit tat.
Es war gewiß klug von Helkias gewesen, einen Fünfzehnjährigen allein mit der Lieferung des Reliquiars zu betrauen, das erkannte Bernardo jetzt. Eine bewaffnete Wache hätte allerlei Gesindel auf den Plan gerufen, das sofort geahnt hätte, daß hier etwas Kostbares unterwegs war. Dagegen hatte ein Junge, der ein unauffälliges Bündel durch die Nacht trug, gewiß bessere Aussichten, ans Ziel zu kommen.
Eine trügerische Hoffnung, wie sich gezeigt hatte.
Espina stieg ab und führte das Pferd auf den Pfad, der zum Fluß hinabführte. Knapp unterhalb der Kante stand eine Steinhütte, die vor langer Zeit von den Römern erbaut worden war; von dort hatte man Verurteilte in den Tod gestürzt. Tief unter ihm schlängelte sich der Fluß in unschuldiger Schönheit zwischen dem Hochufer und einem Granithügel am anderen Ufer dahin. Jünglinge, die in Toledo aufwuchsen, mieden nachts diesen Ort, denn es ging das Gerücht, daß man hier noch immer das Wehklagen der Toten hören konnte.
Er geleitete sein Pferd den Pfad hinunter, bis aus dem steilen Abhang eine sanftere Böschung wurde, bog dann ab und folgte einem Weg, der ihn bis an den Wasserrand führte. Die Alcantara-Brücke war nicht für ihn passierbar, selbst Meir ben Helkias hatte sie wohl kaum benutzt. Nach einer kurzen Strecke flußabwärts kam Bernardo zu der Furt, auf der auch der Junge vermutlich den Fluß überquert hatte, und dort bestieg er wieder sein Pferd.
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