In der anderen Ecke des Zimmers fing Tom an zu schnarchen. Benjamin rollte sich auf die Seite und zog sich die Steppdecke über den Kopf. Ren lehnte sich mit dem Rücken an den Fensterrahmen. Am Vorabend hatte das Zimmer kalt und unfreundlich gewirkt, doch jetzt, im Morgenlicht, stellte Ren fest, dass es recht gepflegt war. Der Boden war gewachst; die Bettvorleger waren an einigen Stellen verblichen, aber sauber. Auf den Nachttischchen lagen Häkeldeckchen, und die Spiegel waren abgestaubt und blank poliert. An einer Wand hing ein schön gemusterter Flickenteppich. An der anderen ein Strauß gepresster Wildblumen, gerahmt und hinter Glas.
Ren hörte Schritte draußen vor der Tür. Er lief hin und legte das Auge ans Schlüsselloch, sah aber nur einen Schatten vorbeihuschen und hörte Stiefel die Treppe hinunterpoltern. Ein Luftzug wehte herein, so dass er blinzeln musste, und als er zurückwich, stieg ihm der Duft von gebratenem Speck in die Nase.
Ren probierte, ob die Tür abgeschlossen war. Ein Klicken, dann war er draußen. Vor der Tür lagen die Kleider des ertrunkenen Jungen ordentlich gefaltet in einem Korb. Sie waren für ihn geändert worden. Die Hosenbeine unten umgeschlagen und gesäumt, die Taille eingenäht, die Ärmel gekürzt. Ren zog das Nachtgewand über den Kopf und probierte sie an. Jetzt passten ihm die Sachen genau. Die Jacke war innen gefüttert, die Knöpfe poliert. Die Bündchen an den Hemdärmeln waren eingefasst, und die Hosentaschen hatten keine Löcher. Ren schob seine Hand hinein und zog ein Taschentuch heraus, gebügelt und zu einem akkuraten Viereck gefaltet.
Das hier waren nicht die kurzen Hosen und die zerlumpte Jacke eines Waisenjungen. Das waren die Kleider eines Mannes. Ren breitete die Arme nach beiden Seiten aus und streckte die Finger aus dem einen Ärmelende; aus dem anderen lugte sein Armstumpf hervor. Der Stoff fiel gerade und glatt, bildete von den Schultern herab eine einwandfreie Linie. Mrs. Sands musste einen Großteil der Nacht damit zugebracht haben, die Sachen zurechtzuschneidern. Ren drehte die Ärmelbündchen um und betrachtete die Stiche – sie waren perfekt verteilt, gleichmäßig und gerade. Eine Woge der Freude erfasste ihn und auch der Dankbarkeit. Noch nie hatte jemand so etwas für ihn getan.
Aus der Küche drangen Stimmen herauf. Ren ging die Treppe hinunter und stützte sich dabei mit der Hand an der Wand ab. Auf der letzten Stufe blieb er stehen und horchte.
»Wollt ihr wohl die Finger da rausnehmen!«
Aus der Küche schallte mehrstimmiges, schrilles Gekicher, dem man deutlich anmerkte, dass Mrs. Sands und ihr Geschrei keinerlei Auswirkungen auf die Kichernden hatte. Ren bog um die Ecke, und da sah er sie – vier Mädchen, aufgereiht auf der Bank, eine reizloser als die andere. Alle trugen klobige Stiefel und die gleichen derben marineblauen Kleider. Eine von ihnen hatte eine Hasenscharte.
»Ich habe nichts angerührt«, sagte das Mädchen mit der Hasenscharte. Hinter ihrem Rücken hielt sie ein Stück Speck. Das Fett hinterließ einen Fleck auf ihrem Kleid, einen kleinen, dunklen, sich ausbreitenden Kreis.
»Du bist die Schlimmste von allen«, sagte Mrs. Sands und gab dem Mädchen eine Ohrfeige. Das Mädchen kippte zur Seite und streckte die Hände aus, um sich abzufangen. Sie landete auf dem Boden, der Speckstreifen brach entzwei, und Mrs. Sands schnappte sich die beiden Teile wie ein Vogel. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, so dass man ihre krummen Zähne sah, und säuberte den Speck mit dem Saum ihrer Schürze.
Das Mädchen betastete die Stelle an ihrem Kopf, mit der sie an der Bankkante aufgeschlagen war. Ihre Mundwinkel kräuselten sich um die Hasenscharte. Sie streckte ihre Fingerspitzen in die Luft. »Kein Blut heute Morgen?«, sagte sie. »Ihr werdet nachlässig, Mrs. Sands.«
Einen Augenblick lang verstummten alle. Dann begann Mrs. Sands zu husten, und die drei anderen Mädchen brachen in so wildes Gelächter aus, als hätten sie es jahrelang zurückgehalten. Sie trommelten mit den Absätzen auf den Boden und johlten, als die mit der Hasenscharte aufstand. Mrs. Sands drehte sich um und legte den Speck behutsam auf einen Teller. Erst als sie sich die Augen wischte, merkte Ren, dass auch sie lachte.
»Still!«, schrie sie. »Sonst weckt ihr noch alle auf.«
»Sie sollten längst auf sein«, sagte die Hasenscharte. »Rechtschaffene Leute schlafen morgens nicht so lang.«
Eines der Mädchen auf der Bank – sie hatte langes braunes Haar und eine Lücke zwischen den Schneidezähnen – entdeckte Ren, der sich hinter der Tür versteckt hatte. »Wer ist das denn?«
»Das ist unser neuer ertrunkener Junge«, sagte Mrs. Sands. Sie ging zu Ren hinüber, packte ihn am Kragen und schleifte ihn zum Tisch.
»Warum habt Ihr uns nichts von ihm erzählt?«, fragte die Hasenscharte.
»Es ist nicht meine Aufgabe, irgendjemand irgendwas zu erzählen«, sagte Mrs. Sands, und plötzlich hob sie Ren hoch wie am Abend zuvor und drückte ihn kräftig an sich. Dann ließ sie ihn zu Boden fallen, nahm ein Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger und zog ihn zu einem Stuhl.
»Hast du gut geschlafen in dem alten Bett?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Ren. »Aber da war was im Kamin.«
Mrs. Sands wartete ab, als wollte sie dieser Information Zeit geben, den Raum zu verlassen. Dann schrie sie: »Hast du denn Hunger, mein Junge?« Ren bejahte, und nur wenige Sekunden später schob Mrs. Sands ihm einen Teller mit Eiern und Butter und Speck und Brot hin.
Ren dachte nicht mehr an den Zwerg. Er steckte sich eine Serviette in den Kragen und aß alles auf, was vor ihm stand. Er verputzte den Speck, und Mrs. Sands legte ihm noch welchen hin. Er aß das ganze Brot, und sie schob Muffins nach. Er leckte das letzte Eigelb vom Löffel, und sie schlug das nächste weich gekochte Ei auf, dessen Schale sich, begleitet vom frischen Duft nach Essig und Salz, von dem schneeweißen Eiklar löste.
Die Mädchen saßen schweigend auf der Bank und ließen die Füße baumeln. Die mit der Zahnlücke verdrehte die Augen, und die Hasenscharte fing Rens Blick auf und streckte ihm die Zunge heraus. Sie war rosarot, genau wie die gespaltene Haut darüber. Ren konnte den Blick nicht abwenden, und als er nicht wegsah, warf sie ihm eine Kusshand zu.
»Gibt es vielleicht Wasser?« Benjamin stand halb angezogen in der Tür. Sein Haar war ungekämmt, die Augen blutunterlaufen.
Mrs. Sands’ Wangen röteten sich. Rasch zog sie unter der Anrichte eine Schüssel hervor und schöpfte aus einem Eimer Wasser hinein. Doch Benjamin ging zur Anrichte hinüber und tauchte sein Gesicht in den Eimer. Einen Moment lang verharrte er so, während Blasen neben seinen Ohren aufstiegen, dann warf er den Kopf zurück und schüttelte ihn wie ein Hund. Mrs. Sands begann zu husten.
Das Mädchen mit der Zahnlücke stieß mit dem Ellbogen die Hasenscharte an, die aufmerksam zusah, wie das Wasser Benjamins Hemd durchnässte und ihm über Brust und Schultern rann.
»Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?«, fragte die Hasenscharte.
Benjamin ging hinüber zur Bank und stellte sich vor die Mädchen hin. Er knöpfte sein Hemd zu und schob dann, einen nach dem anderen, die Hosenträger hoch. »Ich glaube«, sagte er, »ich bin euer Nachbar.«
Mrs. Sands begann auf der Anrichte Teig zu walken, bestäubte ihn mit Mehl und rollte mit rhythmischem Druck das Nudelholz. Ren legte seinen Kopf an die Stuhllehne und sah ihr zu, als hätte er dies schon an hundert Morgen getan. Unterdessen brachen die Mädchen in wildes Gekicher aus, als Benjamin sich vorstellte. Mrs. Sands klatschte den Teig fester auf die Anrichte.
Ein lauter Glockenschlag ertönte, gefolgt von einem zweiten höheren. Die Mädchen sprangen von der Bank auf, griffen nach ihren Schultertüchern, hielten sie wie Segel über ihren Köpfen, ehe sie sie herabsenkten und die Enden unterm Kinn verknoteten.
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