Sarah schloss Lea in die Arme und strich ihr tröstend über die Haare. »Was sollen wir jetzt tun?«
»Das ist doch klar. Wir packen alles von Wert zusammen und verschwinden von hier«, schlug Saul vor.
Lea funkelte ihn zornig an. »Das geht nicht. Elieser würde eine Flucht nicht überleben.«
Saul war anzusehen, dass ihm das wenig Gewissensbisse bereiten würde, doch er hielt den Mund, um Lea nicht noch mehr aufzubringen.
Rachel maß Lea mit vorwurfsvollen Blicken. »Du hättest dem Markgrafen sagen müssen, dass jetzt Elieser unser Familienoberhaupt ist.«
Lea lachte bitter auf. »Glaubst du, das würde nur ein Haar an unserer Situation ändern? Elieser kann noch auf Wochen das Bett nicht verlassen und vor dem Markgrafen erscheinen.«
Sarah schob ein paar Strähnen unter ihr Kopftuch. »Jochanan könnte zum Markgrafen gehen und ihm alles erklären.«
Lea spreizte abwehrend die Hände. »Wenn wir ihn schicken, wird Seine Durchlaucht denken, wir wären am Ende, und rasch zugreifen, um möglichst viel von Vaters Reichtum an sich zu raffen. Nein, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.«
Rachel schnaubte. »Jetzt wird wohl wieder eine von deinen Ideen kommen, für die sich jede jüdische Frau schämen muss!«
Lea hob in einer hilflosen Geste die Arme und starrte ihre Schwester verblüfft an. Dann nickte sie versonnen, riss sich mit einem Jubelruf die Perücke vom Kopf, die sie auf Sarahs Drängen hin trug, und schleuderte sie quer durch den Raum. »Wie Recht du hast, Schwesterchen! Ich werde als Samuel gehen.«
Hätte sie den Vorschlag gemacht, die Familie solle ge-schlossen zum Christentum übertreten, hätte es den Rest der Anwesenden weniger erschüttert. Rachel starrte sie mit weit offen stehendem Mund an, und Sarah rief zornig: »Nein!«
Lea holte tief Luft. »Und warum sollte ich es nicht tun? Am Tor hat man mich für Samuel gehalten, und der Markgraf war nicht nüchtern genug, um sich an mich zu erinnern. Wir gewinnen auf alle Fälle Zeit für Elieser.«
Saul warf einen skeptischen Blick auf den Kranken. »Der überlebt doch die nächsten Tage nicht.«
Für diese Bemerkung erntete er von allen Seiten strafende Blicke. Sarah, die den Knecht sonst als Erste schalt, drehte ihm verächtlich den Rücken zu und rang mit einer ähnlichen Geste wie Rachel die Hände. »Nein, Lea, das darfst du nicht. Der Markgraf wird schnell durchschaut haben, dass du kein Mann bist, und dich für deine Maskerade schwer bestrafen - und uns ebenfalls!«
»Mein Bruder und ich haben uns immer sehr ähnlich gesehen. Ich bin fast so groß wie er, und seine Stimme war nur ein wenig dunkler als die meine. Seine Tonlage müsste ich ohne Probleme treffen können.« Lea versuchte sofort, wie Samuel zu reden, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen heraus.
»Siehst du, es geht nicht«, trumpfte Rachel auf.
»Es muss gehen!« Lea warf einen Blick auf Eliesers schweißüberströmtes Gesicht und richtete ein Stoßgebet zum Himmel. Hilf mir, Gott unserer Väter! flehte sie. Oder ist es dein Wille, uns alle ins Verderben zu stürzen?
Sarah folgte Leas besorgtem Blick und nickte seufzend. Selbst wenn der Junge am Leben blieb, würde es Monate dauern, bis er in der Lage war, vor den Landesherrn zu treten, und es mochte sein, dass der Markgraf ihn dann nicht einmal anhören würde. Elieser galt noch nicht einmal nach den Regeln der jüdischen Gemeinde als volljäh-rig, denn es gab keine Zeugen, dass er Bar-Mizwa gefeiert hatte, und die Christen, die sich nach anderen Gesetzen richteten, würden ihn noch jahrelang als unmündigen Knaben behandeln und sich weigern, ihn als Familienoberhaupt anzuerkennen.
Sie drehte sich um und nickte widerwillig. »Uns bleibt tatsächlich nur die Hoffnung, dass Lea den Markgrafen täuschen kann. Wir sind in Gottes Hand. Mag er für uns, die in einem fremden, feindlichen Land leben und leiden, ein Wunder tun.«
Sarahs Gebet war ehrlich gemeint, das zeigte sich in den nächsten zwei Stunden, in denen sie alles tat, um Lea in einen schmucken jüdischen Jüngling zu verwandeln. Ihre Tochter Ketura, deren Haar von dunklerem Rot war als Leas, musste einige Haarsträhnen opfern, die Sarah mit Kalkwasser bleichte und mit Zucker so stärkte, dass sie sie zu den Schläfenlocken eines gläubigen Aschkenasi drehen konnte. Dann klebte sie sie mit Birkenpech unter Leas Haaransatz vor den Ohren fest. Zwischendurch suchte sie unter Samuels Sachen die geeigneten Kleidungsstücke heraus. Als das Mädchen schließlich in einem braunen Kaftan mit einem gelben Ring auf der Schulter, einem spitzen Hut von gelber Farbe und den um Ärmel und Hand gewickelten Gebetsriemen vor ihr stand, schlug die Wirtschafterin die Hände vors Gesicht.
Ketura schüttelte sich bei dem Anblick. »Das ist ja gespenstisch! Ganz so, als wäre Samuel von den Toten zurückgekehrt.«
Ihre Mutter winkte heftig ab. »Schweig, Mädchen! So etwas sagt man nicht.«
Aber sie brauchte ebenfalls eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Sie zupfte nervös an Lea herum und beschwor sie ein über das andere Mal, vorsichtig zu sein. »Der Gott unsrer Väter sei mit dir, Kind. Wenn er es nicht ist, möge er wenigstens unseren Seelen gnädig sein.«
Dann dämpfte sie ihre Stimme, so dass nur Lea sie verstehen konnte. »Du weißt, was du dir antust, wenn du noch einmal dort hinaufgehst. Du wirst dieselben Menschen treffen, die dich gestern in den Staub getreten haben.«
»Du meinst: in Schweinemist. Ja, ich weiß, aber mir bleibt keine andere Wahl.« Lea umarmte Sarah und Ketu-ra und bat sie, für sie zu beten.
Der Weg zur Burg erschien ihr diesmal endlos lang. Vor dem Burgtor hielten dieselben Männer Wache wie am Vortag, fragten sie aber diesmal nicht aus und machten sich auch nicht über sie lustig, sondern riefen sofort nach einem Diener. Der Mann eilte so schnell herbei, als hätte er nur auf den Besucher gewartet, blieb dann aber stehen und musterte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen, so dass Lea schon Angst bekam, sie sei durchschaut worden. Doch der Diener schien zu dem Schluss zu kommen, dass er tatsächlich Samuel Goldstaub vor sich hatte, und befahl ihr mit einer erleichterten Geste, ihm zu folgen. Statt durch das Gesindehaus führte er sie quer über den Burghof zu einem Besucher minderen Ranges vorbehaltenen Seiteneingang. Dahinter begann eine Treppe, die direkt zu dem langen Korridor mit den Rüstungen an der Wand führte. Diesmal mussten sie nicht so weit gehen wie am Vortag, denn der Diener blieb nach wenigen Schritten vor einem halbrunden, doppelflügeligen Portal stehen und öffnete es ohne anzuklopfen. Dahinter befand sich ein großer, länglicher Saal, an dessen holzgetäfelten Wänden eine Vielzahl von Wappenschildern hing. In der Saalmitte stand eine schier endlos lange Tafel, die wohl für Festmähler gedacht war, jetzt aber im einfallenden Sonnenlicht wie frisch poliert glänzte. Drei-ßig Stühle säumten den Tisch auf beiden Seiten, und an der einen Stirnseite stand ein mit reichen Schnitzereien verzierter Sessel für den Markgrafen bereit, an der anderen ein etwas schlichterer für die Herrin des Hauses. Lea fragte sich, ob die Gastwirtstochter nun den Ehrenplatz beanspruchte, der eigentlich nur einer Dame von Geblüt zustand. Als ihr Blick dann zu den Fenstern hinüberschweifte, deren Glasfüllungen wie Honig schimmerten, öffnete der Diener eine weitere Tür und winkte sie ungeduldig in das nächste Zimmer. Der Raum war halb so groß wie der Saal, den sie eben durchquert hatte, und nur mit einem weißen Sessel möbliert, dessen Polster dick mit Gold- und Silberfäden bestickt waren und dessen Lehne aus zwei vergoldeten Löwen mit Edelsteinaugen bestand. Beinahe jede Handbreit der Wände war von Teppichen bedeckt, die das Geschlecht derer von Hartenburg bei der Jagd und im Krieg glorifizierten. In dem sanften gelben Licht, das durch die Fensterscheiben fiel, wirkten die Bilder so lebendig, als könnten die Tiere und ihre Jäger jeden Augenblick aus ihnen herauspreschen. Lea war so fasziniert von dem Anblick, dass sie erschrak, als der Diener mit lauter Stimme den Juden Samuel, Sohn des Jakob Goldstaub, ankündete, und bemerkte nun erst den Markgrafen, der ähnlich wie am Vorabend an einem der Fenster stand.
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