Ernst Ludwig von Hartenburg war nicht wiederzuerkennen. Sein Gesicht wirkte beherrscht und fast ein wenig steif. Hosen und Hemd waren, soweit Lea erkennen konnte, diesmal sauber, und er trug ein vielfach gefälteltes, grün und weiß geteiltes Wams, das bis über die weiten Ärmel mit goldenen Löwen bestickt war. Auf seinem Kopf saß ein pelzgesäumtes, grünes Barett, aus dem fünf weiße Reiherfedern ragten.
Der Markgraf starrte Lea an, als wollte er sie durch-bohren, bis sie schon glaubte, er habe ihre Maske durchschaut. Aber als er seine grün behandschuhte Rechte hob, an der ein protziger Siegelring aus Gold und grünem Malachit aufleuchtete, und sie zu sich winkte, verriet seine Miene kein Erkennen.
»Du bist also Samuel, der Sohn des Juden Jakob.«
Lea neigte zustimmend den Kopf, wagte aber nicht zu antworten. Die Worte waren auch nicht als Frage gedacht, sondern nur als Einleitung, denn der Markgraf sprach ohne Pause weiter.
»Dein Vater hat uns gute Dienste geleistet, auf die wir nur ungern verzichten würden.«
»Erhabener Herr, meine Familie wird sich bemühen, Euch weiterhin so zu dienen, wie mein Vater es tat.« Lea klangen die eigenen Worte hell, ja beinahe schrill in den Ohren, und sie hielt vor Schreck den Atem an. An ihrer Stimme musste man sie als Mädchen erkennen.
»Es sollte mehr als nur bloßes Bemühen sein«, antwortete ihr eine andere Stimme grimmig. Sie gehörte dem Sekretär des Markgrafen, der lautlos eingetreten war, sich nun mit verschränkten Armen neben seinen Herrn stellte und den Juden vor sich wie einen ekligen Wurm betrachtete.
Lea begriff, dass jetzt alles von ihrer Antwort abhing. Sie verbeugte sich noch einmal tief und antwortete dem Sekretär, ohne ihren Blick von dem Markgrafen zu lösen. »Ich werde die Pflichten meines Vaters übernehmen und sie so gut erfüllen, wie es Seine Durchlaucht gewohnt ist. Die Handelsbeziehungen meiner Familie haben durch das Unglück in Sarningen nicht gelitten, im Gegenteil, das Schicksal meines armen Vaters wird mir neue Türen öffnen und den Geschäften Auftrieb geben.«
»Solltest du uns enttäuschen, wird Seine Durchlaucht dich und deine Sippe mit Ruten aus Hartenburg hinaust-reiben lassen und einen anderen Juden zum Hoffaktor berufen.«
Leas Herz verkrampfte sich, und sie spürte, dass sich ein Abgrund vor ihren Füßen auftat. Das, was sie über die Handelsbeziehungen ihres Vaters wusste, beschränkte sich auf die Dinge, die Samuel ihr in seinem Stolz auf den väterlichen Erfolg erzählt hatte, und das war bei weitem nicht genug, um die Geschäfte ohne Probleme weiterführen zu können. Für Samuel wäre es anders gewesen, denn der Vater hatte ihn seit seiner Bar-Mizwa in den Handel miteinbezogen und ihn auch schon einigen seiner Geschäftsfreunde vorgestellt. Nun aber waren beide tot, und sie musste eine Bürde tragen, die sie schier erdrückte. In ihrer Verzweiflung hätte sie beinahe die nächsten Worte des Sekretärs überhört.
»Seine Durchlaucht ist in seiner Gnade bereit, dir, dem Juden Samuel Goldstaub, den Schutzbrief und die Privilegien deines Vaters zu übertragen. Dafür wirst du innerhalb der nächsten vier Wochen die Summe von dreitausend Gulden bezahlen. Kannst du das nicht, fallen alle Rechte an Seine Durchlaucht zurück, und deine Sippe muss das Land verlassen.«
Lea wusste nicht, wie es ihr gelang, Haltung zu bewahren. Dreitausend Gulden waren eine gewaltige Summe. Damit konnte sich ein Christ eine Ritterburg mit einem Meierhof und Wald und Weide dazu kaufen. In Harten-burg gab es höchstwahrscheinlich keine Familie, die ein solches Vermögen ihr Eigen nannte, und es schien ihr unmöglich, auch nur einen Teil dieser Summe heranzuschaffen, selbst wenn sie sämtliche Geschäftspartner ihres Vaters herausfand und sie um einen Kredit anging. Der Sekretär wedelte mit der rechten Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Du kannst gehen!«
Lea war froh, entlassen zu sein. Sie verbeugte sich noch einmal vor dem Markgrafen und etwas knapper vor dem Sekretär und wollte sich schon umdrehen, als ihr einfiel, dass sie ihrem Landesherrn niemals den Rücken zuwenden durfte. Daher zog sie sich unter mehreren Bücklingen rückwärts gehend zurück, prallte gegen den Türpfosten und verließ den Audienzsaal unter dem Gelächter der beiden Männer, die sich über den ungeschickten Juden lustig machten. Draußen wurde sie von dem gleichen Diener in Empfang genommen, der sie hereingebracht hatte. Er führte sie vor das Burgtor, blieb dort vor ihr stehen und machte eine unverkennbare Handbewegung. Eine Münze wechselte den Besitzer, dann konnte Lea ihrer Wege ziehen.
A ls Lea an ihr Haustor klopfte, dauerte es ungewöhnlich lange, bis Jochanan ihr öffnete.
»Veit Steer ist bei Elieser!«, rief er ganz aufgeregt.
»Der Wundarzt, endlich!« Lea raffte den Kaftan und rannte die Treppe hoch, um zu hören, wie der Arzt den Zustand ihres Bruders beurteilte. Sarah aber fing sie im Flur ab.
»Du wirst doch nicht so schamlos sein, dich in diesem Aufzug Veit Steer zu zeigen?«, schalt sie, schob Lea die zweite Treppe hoch in deren Kammer und ließ sie erst wieder gehen, nachdem sie sie in ein Mädchen zurückverwandelt hatte. Als sie Eliesers Zimmer betrat, hatte Veit Steer das geschwollene Bein schon aufgeschnitten und stocherte mit einer Zange in der Wunde herum. Saul, Gomer und Ketura hielten den Jungen fest, der sich trotz eines betäubenden Trankes vor Schmerzen krümmte. Me-rab stand am Fußende des Bettes und hielt eine Schale von sich, deren Inhalt Lea erst auf den zweiten Blick als eitrige Knochenstücke identifizierte.
Der Arzt warf Lea einen flüchtigen Blick zu, ohne von seiner blutigen Arbeit abzulassen. »Man hat deinem Bruder das Schienbein zertrümmert. Ich hole die Splitter aus dem Fleisch, damit sie es nicht weiter entzünden können.«
Lea presste die Hand auf ihr Herz. »Wird er wieder gesund werden?«
Der Arzt hob zweifelnd die Schultern. »Ich hoffe es. Wenn er die nächsten zwei Wochen übersteht, wird er am Leben bleiben, aber er wird sein Bein nie mehr belasten können.«
Um nicht hysterisch zu werden, nahm Lea einen Lappen, tauchte ihn in Wasser und wischte Elieser den Schweiß von der Stirn. Der Junge warf seinen Kopf abwehrend hin und her, nahm Lea dann aber wahr und versuchte zu lächeln. »Jetzt geht es mir schon besser. Ich werde nicht sterben, das verspreche ich dir.«
»Du wirst durchkommen«, bestätigte Lea ihm mit einem aufmunternden Lächeln. Sie zog einen Hocker heran und nahm Eliesers Hand, um ihn zu trösten. Doch in dem Moment, in dem sie sich setzte, fiel ihr ein, dass sie einige Dinge zu tun hatte, die für Eliesers Überleben mindestens ebenso wichtig waren wie die Kunst des Arztes oder ihre Zuwendung. Sie musste einen Weg finden, die maßlosen Forderungen des Markgrafen zu erfüllen, denn es blieb ihr nicht genug Zeit, die Flucht aus Hartenburg so vorzubereiten, dass sie und ihre Angehörigen nicht als Bettler ins Ungewisse ziehen mussten. Hastig verabschiedete sie sich von Elieser und dem Arzt und ging hinüber in das Zimmer, in dem ihr Vater gearbeitet und geschlafen hatte.
Zu Lebzeiten ihres Vaters war der Raum eine Art Re-fugium gewesen, das sie nur dann hatte betreten dürfen, wenn sie darin sauber machen musste. Als sie nun darin stand, kam es ihr so vor, als warte das Zimmer sehnsüchtig auf seinen Besitzer. Die Decke auf dem schmalen Bett war aufgeschlagen, als müsste Jakob ben Jehuda im nächsten Augenblick zur Tür hereinkommen, um sich niederzulegen. Dahinter blähte sich der Vorhang vor dem Fenster und präsentierte einen siebenarmigen Leuchter, den Lea selbst daraufgestickt hatte. Sie schluchzte auf, trocknete sich die Tränen aber sofort an einem Tuch aus ihrer Schürzentasche und trat zu einem schmucklosen Kasten aus Eichenholz, der zusätzlich mit schweren Eisenbändern verstärkt worden war. In ihm pflegte ihr Vater seine Ge-schäftspapiere und größere Geldsummen aufzubewahren.
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