Nachdem die Mordgesellen sich entfernt hatten, blieb Sethi mehr als eine Stunde reglos hocken. Er dachte an Paser, an dessen Liebe für Gerechtigkeit und äußerste Vollkommenheit, wie hätte er sich angesichts dieser Barbarei verhalten? Ihm war fremd, daß es so nahe an Ägypten eine Welt ohne Gesetz gab, in der ein Menschenleben nicht den geringsten Wert besaß.
Sethi zwang sich, bis zur Höhle hinunterzuklettern. Seine Beine zitterten, die Schreie des Sterbenden hallten noch in seinen Ohren wider. Der Gemarterte hatte seine Seele ausgehaucht. Nach seinem Schurz und seinem Aussehen zu urteilen, war der Mann Ägypter, zweifelsohne ein Mann von Aschers Heer, der in die Gewalt der Aufrührer geraten war. Mit bloßen Händen hob Sethi ihm ein Grab im Innern der Höhle aus.
Voller Entsetzen und restlos erschöpft, setzte er seinen Weg fort und überließ sich dem Schicksal. Dem Feind gegenüber würde er keine Kraft mehr haben, sich zu verteidigen.
Als zwei behelmte Krieger ihn anriefen, sank er auf die feuchte Erde.
Ein Zelt.
Eine Bettstatt, ein Kissen unter dem Kopf, eine Decke. Sethi richtete sich auf. Die Spitze eines Messers nötigte ihn, sich wieder hinzulegen. »Wer bist du?«
Der Mann, der ihn verhörte, war ein ägyptischer Offizier mit einem Gesicht wie gemeißelt. »Sethi, Bogenschütze der Streitwagentruppe.«
»Woher kommst du?« Er berichtete von seinen Großtaten. »Kannst du deine Behauptungen beweisen?«
»In meinem Beutel ist ein Stück des Wagens mit dem Namen meines Anführers.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Die Beduinen haben ihn getötet.«
»Und du, du hast dich davongemacht.«
»Selbstverständlich nicht! Mit meinen Pfeilen habe ich an die fünfzehn getroffen.«
»Wann wurdest du verpflichtet?«
»Zu Beginn des Monats.«
»Kaum fünfzehn Tage, und du sollst bereits ein Meister des Bogens sein!«
»Eine Gabe.«
»Ich glaube nur an Ertüchtigung. Wie wäre es, wenn du nun endlich die Wahrheit sagtest?« Sethi warf die Decke zurück. »Das ist die Wahrheit.«
»Könntest du nicht deinen Anführer beseitigt haben?«
»Ihr redet wirr!«
»Ein verlängerter Aufenthalt in einem Verlies wird dir die Gedanken wieder zurechtrücken.« Sethi stürzte nach draußen. Zwei Soldaten hielten ihn an den Armen fest, ein dritter hieb ihm in den Magen und betäubte ihn mit einem Faustschlag in den Nacken.
»Wir haben recht daran getan, diesen Spitzel gesund zu pflegen. Er wird gar nicht mehr aufhören zu plaudern.«
In einem der meistbesuchten Wirtshäuser Thebens zu Tisch sitzend, lenkte Paser die Unterhaltung auf Hattusa, eine der zum Landeswohl angenommenen Gemahlinnen von Ramses dem Großen. Beim Abschluß des Friedens- und Bündnisvertrages mit den Hethitern hatte PHARAO eine der Töchter des asiatischen Herrschers als Unterpfand der Aufrichtigkeit zur Gattin erhalten. An die Spitze des Harems von Theben gesetzt, verlebte sie dort ein Dasein in verschwenderischem Prunk. Hattusa, die Unnahbare, Unsichtbare, war nicht beliebt. Böse Zungen griffen sie an; betrieb sie nicht die Schwarze Kunst, verbündete sie sich nicht mit den Geistern der Nacht, weigerte sie sich denn nicht, bei den Großen Festen zu erscheinen?
»Ihretwegen«, verkündete der Besitzer des Wirtshauses, »hat sich der Preis der Salben verzweifacht.«
»Weshalb ist sie dafür verantwortlich?«
»Ihre Hofdamen, deren Zahl stetig zunimmt, schminken sich den lieben langen Tag. Der Harem verbraucht eine unwahrscheinliche Menge an Salben erster Güte, erwirbt sie teuer und treibt so deren Marktpreise in die Höhe. Beim Öl verhält es sich genauso. Wann werden wir endlich von dieser Fremden befreit sein?« Niemand übernahm Hattusas Verteidigung.
Üppiger Pflanzenbestand umgab die Gebäude des Harems am Ostufer. Ein Kanal versorgte das Anwesen, bewässerte verschwenderisch mehrere Lustgärten, die den Hofdamen – Betagte und Witwen – vorbehalten waren, sowie einen großen Obstgarten und eine Blumenanlage, in der sich die Spinnerinnen und Weberinnen ergingen. Wie alle Harems von Ägypten barg der von Theben zahlreiche Werkstätten, Schulen für Tanz, Musik und Dichtkunst, eine eigene Anpflanzung von wohlriechenden Kräutern und eine Wirkstätte für Schönheitsmittel; besonders geschulte Meister bearbeiteten dort Holz, Schmelzglas [51] Email. (Anm. d. Ü.)
und Elfenbein; dort schuf man herrliche Gewänder aus Leinen und widmete sich der erlesenen Kunst der Blumenbinderei. Von unablässiger Emsigkeit erfüllt, war der Harem ebenfalls ein Mittelpunkt des Unterrichts, in dem die für die Oberste Verwaltung auserkorenen Ägypter und Fremden sich bildeten. Neben den mit allerprächtigstem Geschmeide gezierten Damen gingen Handwerker, Lehrer sowie Verwalter ein und aus, welchen die Versorgung der Kostgänger mit frischen Lebensmitteln aufgetragen war. Richter Paser wurde früh am Morgen in den Hauptpalast eingelassen. Sein Stand erlaubte ihm, durch die Absperrung der Wachen zu dringen und sich mit Hattusas Kammerherrn zu besprechen. Letzterer nahm das Ansuchen des Richters entgegen und legte es seiner Herrin vor, die es zur Überraschung ihres Untergebenen nicht zurückwies. Der Amtmann wurde in einen Raum mit vier Säulen geleitet, dessen Wände mit Malereien, die Vögel und Blumen darstellten, verziert waren. Ein vielfarbener Bodenbelag verstärkte noch den Zauber des Ortes. Um Hattusa, die auf einem Thronsessel von vergoldetem Holz saß, flatterten zwei Leibdienerinnen. Sie hantierten mit Schminktöpfchen und ‑spateln und Duftschatullen, um schließlich den morgendlichen Putz mit der heikelsten Verrichtung, nämlich dem Anpassen der Perücke, zu beenden, der die Geschickteste noch, nachdem sie die unvollkommenen Locken zurechtgemacht hatte, falsche Strähnen anheftete.
Die hethitische Prinzessin hatte die Dreißig überschritten, und ihre Kopfhaltung bekundete Verachtung; sie bewunderte ihre Schönheit in einem Spiegel, dessen Stiel einen Lotosstengel beschwor.
»Ein Richter bei mir, zu einer derart morgendlichen Stunde! Es macht mich neugierig. Welches ist der Beweggrund Eures Besuchs?«
»Ich möchte Euch gerne einige Fragen stellen.« Sie legte den Spiegel beiseite und entließ die Perückendienerinnen.
»Sagt Euch eine Unterredung unter vier Augen zu?«
»Aufs beste.«
»Endlich ein wenig Zerstreuung! Das Leben ist so langweilig in diesem Palast.« Mit ihrer sehr weißen Haut, ihren langen und feinen Händen und den schwarzen Augen war Hattusa anziehend und beunruhigend zugleich. Eigensinnig, geistreich, beißend und lebhaft, kannte sie keinerlei Nachsicht mit ihrem jeweiligen Gegenüber und fand Gefallen daran, dessen Schwächen, Sprachfehler, ungeschicktes Verhalten oder körperliche Unvollkommenheiten zu brandmarken. Sie musterte Paser mit großer Aufmerksamkeit. »Ihr seid nicht der schönste Mann Ägyptens, indes kann eine Frau sich in Euch verlieben und Euch treu bleiben. Ungeduldig, leidenschaftlich, stets nur nach höchsten Zielen und Werten strebend … Ihr vereint schlimme Mängel in Euch. Und seid in einem Maße ernsthaft, ja beinahe ernst, daß Ihr Eure Jugend vergeudet.«
»Erlaubt Ihr mir, Euch zu befragen?«
»Ein kühner Schritt! Seid Ihr Euch Eurer Unverschämtheit bewußt? Ich bin eine der Gemahlinnen des Großen Ramses und könnte Euch noch in diesem Augenblick Eures Amtes entheben lassen.«
»Ihr wißt genau, daß dies nicht stimmt. Ich würde meine Sache vor dem Gericht des Wesirs verteidigen, und Ihr würdet wegen Mißbrauchs Eurer Macht vorgeladen.«
»Ägypten ist ein befremdliches Land. Nicht allein, daß seine Bewohner an das Recht glauben, sie achten es auch noch und wachen über seine Anwendung. Dieses Wunder wird nicht andauern.« Hattusa nahm den Spiegel wieder zur Hand, um die Locken ihrer Perücke eine nach der anderen zu begutachten.
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