An diesem Morgen hatte der Junge sich verspätet. Der Altgediente geriet schon in Zorn, als mit einem Male Schritte auf dem gefliesten Boden der Backstube zu hören waren. Der Bäcker drehte sich um. »Ich werde dich … Wer seid Ihr?«
»Ich vertrete Euren Helfer. Er leidet an starken Kopfschmerzen.«
»Ihr wohnt nicht im Dorf.«
»Ich arbeite bei einem anderen Bäcker, eine halbe Stunde von hier. Der Dorfvorsteher hat mich kommen lassen.«
»Hilf mir.«
Da der Ofen tief war, mußte der Altgediente sich mit Kopf und Oberkörper hineinbegeben, um im hinteren Teil so viele Brotformen wie möglich unterzubringen; sein Gehilfe hielt ihn dabei an den Schenkeln fest, um ihn beim kleinsten Zwischenfall herauszuziehen.
Der Altgediente wähnte sich in Sicherheit. Doch an diesem Tage wollte Richter Paser sein Dorf besuchen, seinen wahren Namen erfahren und ihn befragen. Der Schattenfresser hatte keine andere Wahl mehr. Er packte ihn an beiden Fesseln, riß sie vom Boden hoch und stieß den Altgedienten mit ganzer Kraft ins Innere des Ofens.
Der Eingang des Marktfleckens war menschenleer. Nicht eine Frau auf der Türschwelle, nicht ein unter einem Baum schlummernder Mann, nicht ein mit seiner Holzpuppe spielendes Kind. Den Richter überkam die Gewißheit, daß sich gerade ein ungewöhnliches Ereignis zugetragen haben mußte; er forderte Kem auf, sich nicht von der Stelle zu rühren. Der Babuin und der Hund schauten sich aufgeregt um.
Paser lief eilends die von niedrigen Häusern gesäumte Hauptstraße entlang.
Rund um den Backofen fehlte nicht ein Dorfbewohner. Man schrie, man schubste, man rief die Götter an. Ein Heranwachsender erklärte zum zehntenmal, daß er niedergeschlagen worden sei, als er aus dem Hause trat und sich anschickte, dem Bäcker, seinem Ziehvater, zu helfen. Er machte sich wegen des entsetzlichen Unfalls bittere Vorwürfe und weinte heiße Tränen.
Paser drängte sich durch die Menge. »Was ist geschehen?«
»Unser Bäcker ist soeben auf grauenhafte Weise gestorben«, antwortete das Dorfoberhaupt. »Er muß ausgerutscht und im Ofen ohnmächtig geworden sein. Für gewöhnlich hält sein Gehilfe ihn an den Beinen zurück, um ein derartiges Unglück zu vermeiden.«
»Handelte es sich um den aus Memphis zurückgekehrten Altgedienten?«
»In der Tat!«
»Hat jemand diesem … Unfall beigewohnt?«
»Nein. Weshalb all diese Fragen?«
»Ich bin der Richter Paser, und ich kam hierher, um diesen Unglücklichen zu befragen.«
»Worüber?«
»Ohne Belang.«
Eine völlig aufgelöste Frau klammerte sich jäh an Pasers linken Arm.
»Es waren die Geister der Nacht, die ihn getötet haben, weil er eingewilligt hat, Brot, unser Brot, dieser Fremden namens Hattusa zu liefern, die über den Harem herrscht.«
Der Richter stieß sie barsch beiseite. »Da Ihr das Gesetz anwendet, rächt unseren Bäcker und nehmt diese Dämonin fest.«
Paser und Kem aßen auf dem freien Feld neben einem Brunnen zu Mittag. Der Babuin schälte mit großer Fingerfertigkeit milde Zwiebeln. Er begann allmählich, Pasers Gegenwart ohne großes Mißtrauen zu dulden. Brav labte sich an Brot und Gurken, Wind des Nordens kaute Futterklee. Fahrig drückte der Richter einen Schlauch frisches Wasser an sich.
»Ein Unfall und fünf Opfer! Das Heer hat gelogen, Kem. Sein Bericht ist eine Fälschung.«
»Ein einfacher Irrtum der Verwaltung.«
»Das war Mord, ein erneuter Mord.«
»Keinerlei Beweise. Der Bäcker ist verunglückt. So etwas hat sich schon ereignet.«
»Der Mörder ist vor uns dagewesen, weil er wußte, daß wir ins Dorf kommen würden. Niemand sollte die Spur des vierten Altgedienten wiederfinden, niemand sollte sich mit dieser Angelegenheit näher befassen.«
»Dringt nicht weiter. Ihr habt irgendeine Abrechnung unter Kriegern aufgestöbert.«
»Wenn die Gerechtigkeit sich geschlagen gibt, wird die Gewalt anstelle von PHARAO herrschen.«
»Ist Euer Leben nicht wichtiger als das Gesetz?«
»Nein, Kem.«
»Ihr seid der unerschütterlichste Mann, dem ich je begegnet bin.«
Wie sehr der Nubier sich doch täuschte! Selbst in diesen unheilvollen Stunden gelang es Paser nicht, Neferet aus seinem Sinn zu verbannen. In der Folge dieses Zwischenfalls, der ihm die Stichhaltigkeit seiner Ahnungen bewies, hätte er sich ganz seiner Untersuchung widmen müssen; doch die Liebe, so heftig wie der Wind des Südens, fegte diesen Vorsatz hinweg. Er stand auf und lehnte sich mit geschlossenen Lidern gegen den Brunnen. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
»Es wird vorübergehen.«
»Der vierte Altgediente war noch am Leben«, erinnerte Kem.
»Wie steht es um den fünften?«
»Falls wir ihn befragen könnten, würden wir dieses Geheimnis durchdringen.«
»Sein Dorf ist ohne Zweifel nicht sehr weit entfernt.«
»Wir werden nicht hingehen.« Der Nubier lächelte. »Endlich seid Ihr vernünftig!«
»Wir werden nicht hingehen, weil man uns verfolgt und uns vorauseilt. Wegen unseres Eintreffens nämlich wurde der Bäcker ermordet. Falls der fünfte Altgediente noch von dieser Welt ist, würden wir ihn zum Tode verurteilen, gingen wir weiterhin auf dieselbe Weise vor.«
»Was schlagt Ihr vor?«
»Ich weiß es noch nicht. Zunächst werden wir nach Theben zurückkehren. Der oder die, die uns beobachten, werden glauben, wir befänden uns auf der falschen Fährte.«
Paser überprüfte die Erträge der Holzsteuer des vorangegangenen Jahres. Der fettleibige Beamte öffnete seine Schriftenkammern und labte sich dann an Karobesaft. Dieser niedere Richter besaß wahrhaftig nicht die geringste Spur von Größe. Während er unzählige Buchhaltungstäfelchen einsah, schrieb der thebanische Amtmann einen Brief an Monthmose, um ihn zu beruhigen. Paser würde keinen Sturm verursachen.
Trotz des behaglichen Zimmers, das ihm angeboten worden war, verbrachte der Richter eine schlaflose Nacht, hin- und hergerissen zwischen der Besessenheit, Neferet wiederzusehen, und der Notwendigkeit, seine Nachforschungen fortzusetzen. Sie wiedersehen, da er ihr doch gleichgültig war; seine Nachforschungen fortsetzen, da die Angelegenheit doch bereits begraben und vergessen war? Unter der Verzweiflung seines Herrn leidend, legte Brav sich eng neben ihn. Seine Wärme würde ihm die Lebenskraft einflößen, die er benötigte. Der Richter streichelte seinen Hund und dachte dabei an seine Streifzüge am Nil entlang, als er noch ein junger sorgloser Mann und davon überzeugt gewesen war, ein friedliches Dasein in seinem Dorf zu verleben, in dem Jahreszeit auf Jahreszeit folgte. Das Schicksal hatte sich seiner mit der Jähe und der Gewalt eines Raubvogels bemächtigt; würde er, wenn er seinen tollen Träumen, wenn er Neferet, der Wahrheit entsagte, seine innere Ruhe von einst wiederfinden?
Sich selbst zu belügen, war vergeblich. Neferet würde seine einzige Liebe bleiben.
Die Morgenröte hatte ihm einen Hoffnungsschimmer gebracht. Ein Mann konnte ihm helfen! Also begab er sich zu den Hafenbecken Thebens, wo jeden Tag ein großer Markt abgehalten wurde. Sobald die Waren gelöscht waren, stellten Kleinhändler sie auf Auslagen zur Schau. Männer und Frauen führten ihre Stände unter freiem Himmel, boten die mannigfachsten Lebensmittel, Stoffe, Kleidung und tausendundeinen Gegenstand feil. Unter dem Binsendach einer Schenke tranken Seeleute Bier und bewunderten dabei die hübschen Frauen der besseren Kreise, die auf der Suche nach Neuigkeiten waren. Ein am Boden sitzender Fischhändler vor seinem Rohrgeflechtkorb, der Nilbarsche enthielt, tauschte zwei schöne Stücke gegen ein Töpfchen Salböl; ein Feinbäcker Kuchen gegen eine Halskette und ein Paar Sandalen, ein Lebensmittelkrämer Saubohnen gegen einen Besen. Bei jedem dieser Geschäfte erhitzten sich die Gemüter, und die Verhandlungen endeten in einer gütlichen Einigung. Sofern die Streitigkeit das Gewicht der Waren betraf, konnte man auf eine Waage zurückgreifen, die ein Schreiber überwachte. Endlich sah Paser ihn.
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