Ah! entgegnete Morel, man verläßt einen Kerker wieder nach acht Tagen, nach einem Monat, nach einem Jahr.
Erbliebvierzehn Jahre dort, Morel, sagte der Graf, seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legend.
Maximilianbebte und murmelte: Vierzehn Jahre!
Vierzehn Jahre, wiederholte der Graf. Auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweiflung, auch er hielt sich, wie Sie, Morel, für den Unglücklichsten der Menschen und wollte sich töten.
Nun?
Nun! Im äußersten Augenblick enthüllte sich ihm Gott durch ein irdisches Mittel, denn Gott tut keine Wunder mehr. Am Anfangbegriff er vielleicht nicht die unendlicheBarmherzigkeit des Herrn; endlich aber faßte er Geduld und wartete.
Eines Tages kam er wie durch ein Wunder aus seinem Grabe, ein anderer, reich, mächtig; sein erster Schrei galt seinem Vater — sein Vater war tot.
Mein Vater ist auch tot, sagte Morel.
Ja, aber Ihr Vater starbin Ihren Armen, unter Freunden, glücklich, geehrt, reich; sein Vater starbarm, hoffnungslos, an Gott verzweifelnd. Und als zehn Jahre nach seinem Tode der Sohn sein Grabsuchte, da war sogar sein Grabverschwunden, und niemand konnte ihm sagen: Hier ruht im Herrn das Herz, das dich so sehr geliebt.
Oh! seufzte Morel.
Dies war also ein unglücklicherer Sohn, als Sie, Morel, denn er wußte nicht einmal, wo er das Grabseines Vaters wiederfinden sollte.
Aber esbliebihm doch wenigstens die Frau, die er so sehr geliebt hatte.
Sie täuschen sich, Morel, diese Frau…
Sie war tot? rief Morel.
Noch schlimmer als dies; sie war untreu geworden, sie hatte einen von den Verfolgern ihresBräutigams geheiratet. Sie sehen also, daß dieser Mensch in seiner Liebe unglücklicher war, als Sie.
Und ihm hat Gott dennoch Trost verliehen?
Er hat ihm wenigstens Ruhe verliehen.
Und dieser Mensch kann noch glücklich sein?
Ich hoffe es, Maximilian.
Der junge Mann ließ sein Haupt auf seineBrust sinken.
Sie haben mein Versprechen, sagte er nach kurzem Stillschweigen, Monte Christo die Hand reichend; nur erinnern Sie sich…
Am fünften Oktober, Morel, erwarte ich Sie auf der Insel Monte Christo. Am vierten holt Sie eine Jacht im Hafen vonBastia ab; diese Jacht heißt der Eurus, Sie nennen sich dem Patron, und er führt Sie zu mir. Nicht wahr, das ist abgemacht, Maximilian?
Es ist abgemacht, und ich werde tun, was gesagt ist? nur erinnern Sie sich des fünften Oktobers. Wann reisen Sie?
Auf der Stelle, das Dampfboot erwartet mich. In einer Stundebin ich fern von Ihnen.
Morelbegleitete Monte Christobis zum Hafen; schon wirbelte der Rauch aus der schwarzen Röhre des Dampfers hervor. Bald lief das Schiff aus, und eine Stunde nachher durchstreifte derselbe Strich von weißlichem Rauch, kaum noch sichtbar, den von den ersten Nebeln verdüsterten östlichen Horizont.
In demselben Augenblick, wo das Dampfschiff des Grafen hinter dem Kap Morgiou verschwand, hatte ein Mann, der mit Extrapost auf der Straße von Florenz nach Rom reiste, das Städtchen Aquapendente passiert. In einen Oberrock gekleidet, der ein glänzendesBand der Ehrenlegion sehen ließ, war dieser Mann nicht allein durch dieses Zeichen, sondern auch durch den Akzent, in dem er mit dem Postillon sprach, als Franzose leicht erkennbar.
In der Nähe der ewigen Stadt fühlte der Reisende durchaus nicht die Regung enthusiastischer Neugierde, die jeden Fremden antreibt, sich aus seinem Wagen zu erheben und den Dom von St. Peter ins Auge zu sassen, den man lange vorher gewahrt, ehe man etwas anderes unterscheidet.
Nein, er zog nur sein Portefeuille aus der Tasche und aus dem Portefeuille ein viereckig zusammengelegtes Papier, das er entfaltete und mit einer fast ehrfürchtigen Aufmerksamkeit wieder zusammenlegte. Dann sagte er: Gut! ich habe es immer noch.
Der Wagen fuhr durch die Porta del Popolo, schlug den Weg links ein und hielt vor dem Gasthofe zur Stadt London an. Meister Pastrini, unser alterBekannter, empfing den Reisenden, den Hut in der Hand, auf der Schwelle seines Hauses. Der Reisende stieg aus, befahl ein gutes Mittagsmahl und erkundigte sich nach der Adresse des Hauses Thomson und French, die ihm sogleich genannt wurde, denn dieses Haus war eines derbekanntesten in Rom. Es lag auf der Via deiBanchibei St. Peter.
Als der Ankömmling nach dem Essen mit dem Führer den Gasthof verließ, trennte sich ein Mensch von einer Gruppe von Neugierigen und folgte dem Fremden, ohne von diesembemerkt zu werden, mit der Geschicklichkeit eines Agenten der Pariser Polizei. Der Franzose hatte große Eile, seinenBesuchbei dem Hause Thomson und French zu machen, und sie kamenbald an Ort und Stelle. Der Franzose trat ein und ließ seinen Führer im Vorzimmer. Gleichzeitig mit dem Franzosen trat der Mensch ein, der ihm so vorsichtig gefolgt war. Der Franzose läutete an der Tür desBüros und ging in das erste Zimmer; sein Schatten tat dasselbe.
Finde ich hier die Herren Thomson und French? fragte der Fremde.
Ein Lakai erhobsich und fragte, wen er zu melden habe, indem er sich anschickte, dem Fremden voranzugehen.
Den HerrnBaron von Danglars.
Kommen Sie! sagte der Lakai.
Eine Tür öffnete sich, der Lakai und derBaron verschwanden durch diese Tür. Der Mensch, der hinter Danglars eingetreten war, setzte sich auf eine Wartebank. Außerdembefand sich im Zimmer nur ein Kommis, der ungefähr fünf Minuten lang ruhig schrieb, während der Wartende ganz still und unbeweglich dasaß. Dann kritzelte die Feder des Kommis nicht mehr auf dem Papiere; er schaute auf, sah aufmerksam umher und sagte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß ihn niemand weiter hören konnte: Ah! Ah! Du hier, Peppino?
Ja, antwortete dieser lakonisch.
Du witterstBeutebei dem Dicken?
Die Witterung war leicht; man hat uns im voraus Nachricht gegeben.
Du weißt also, was er hier macht?
Bei Gott! Er kommt, um Geld zubeziehen; nur muß man erst wissen, wieviel.
Man wird es dir sogleich sagen, Freund.
Sehr gut. Doch ich rate dir, mir keine falsche Nachricht zu geben.
Gut, ich will gleich in mein Observatorium gehen, der Franzose könnte sonst inzwischen sein Geschäft abmachen.
Peppino machte einbejahendes Zeichen, zog einen Rosenkranz aus seiner Tasche und murmelte ein paar Gebete, während der Kommis durch dieselbe Tür verschwand, die dem Lakaien und demBaron Eingang gewährt hatte. Nach ungefähr zehn Minuten kam er strahlend zurück.
Nun? fragte Peppino. — Hurtig! sagte der Kommis; die Summe ist rund. — Nicht wahr, fünfbis sechs Millionen? — Ja; du weißt die Zahl? — Auf einen Schein des Grafen von Monte Christo? — So ist es, rief der Kommis; wenn du aber schon alles weißt, warum wendest du dich dann noch an mich? — Um sicher zu sein, daß es der Mensch ist, mit dem wir zu tun haben. — Er ist es… fünf Millionen. Nicht wahr, eine hübsche Summe, Peppino?
Ja, und wirbekommen einigeBrocken davon, erwiderte Peppino philosophisch.
Still! Unser Mann kommt.
Der Kommis nahm wieder seine Feder und Peppino seinen Rosenkranz; der eine schrieb, der anderebetete, als die Tür sich öffnete. Danglars erschien strahlend, begleitet von demBankier, der ihnbis zur Tür zurückführte.
Hinter Danglars entfernte sich Peppino.
Der Wagen wartete vor dem Hause. Der Führer hielt den Kutschenschlag geöffnet. Danglars sprang leicht wie ein Jüngling von zwanzig Jahren in den Wagen. Der Führer schloß den Schlag und stieg zum Kutscher hinauf. Peppino stieg auf den Hintersitz.
Will Seine Exzellenz St. Peter sehen? fragte der Führer.
Wozu? entgegnete derBaron; ichbin nicht nach Rom gekommen, um zu sehen. Für sich fügte er mit seinem habgierigen Lächeln hinzu: Ichbin gekommen, um einzusacken.
Und erbetastete in der Tat sein Portefeuille, in dem er einenBrief verschlossen hatte.
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