»Die Anerkennung des Barons zu verdienen war nicht unser Ziel«, brachte seine Mutter in Erinnerung.
»Aber unsere Macht zu mehren ist uns ebenfalls nicht gelungen«, zischte Guillaume. »Wohin ich auch gehe, was ich auch unternehme, immer stoße ich an meine Grenzen. Andere besetzen die Positionen, die ich einnehmen sollte: mein Vater, Eustace …«
»Du musst Geduld haben«, wiederholte Eleanor beschwörend.
»Aber ich will nicht mehr!«, brüllte Guillaume so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Auch die Tränen der Verzweiflung konnte er nicht mehr länger zurückhalten. »Vielleicht hat Vater ja recht, und ich bin tatsächlich ein feiger Taugenichts!«
»Das bist du nicht«, widersprach seine Mutter entschieden. »Das darfst du nicht einmal denken.«
»Aber warum liebt er mich dann nicht, wie ein Vater seinen Sohn lieben sollte? Warum verschafft er mir nicht die Anerkennung, die mir aufgrund meines Namens und meiner Herkunft zukäme? Warum, Mutter, könnt Ihr mir das sagen?«
Eleanor bedachte Guillaume mit einem prüfenden Blick. Die Tatsache, dass sich der Zorn ihres Sohnes nicht mehr ausschließlich auf den Baron, sondern inzwischen auch auf sie richtete, schien sie zu beunruhigen, denn sie legte Stickrahmen und Nadel beiseite, erhob sich und trat um den Tisch herum auf ihn zu, eine bleiche, geisterhafte Gestalt, die in ihrem langen Kleid über den Boden zu schweben schien.
»Was, wenn er nicht dein Vater wäre?«, fragte sie nur.
Guillaume stockte jäh in seinem Lamento, blickte aus geröteten Augen zu ihr auf. »W-was?«
»Wenn er nicht dein Vater wäre, sondern nur derjenige, der sich als dein Vater ausgegeben hat, was dann?«
»Warum sollte er so etwas tun?«
»Vielleicht, um den Besitz seiner Familie durch einen Erben zu sichern. Vielleicht auch, um nicht vor aller Welt eingestehen zu müssen, dass er nicht in der Lage ist, selbst einen Erben zu zeugen.«
»Ist das wahr?«
»So wahr ich hier vor dir stehe.« Eleanor verzog keine Miene.
Guillaume nickte zustimmend. Sein Verstand wehrte sich nicht einen Augenblick lang, das anzuerkennen, was sein Herz schon vor Jahren begriffen hatte. Im Gegenteil, seltsame Euphorie erfüllte ihn plötzlich. Endlich ergab alles Sinn, erkannte er den Grund für de Reins Ablehnung und sein hartherziges Wesen …
»Warum habt Ihr es mir nicht früher gesagt?«, wollte er von seiner Mutter wissen. »Es hätte mir manches erspart.«
»Ein Eid hat mich gebunden, den ich einst geschworen habe.«
»Gegenüber wem? Renald de Rein?«
»Nein. Gegenüber dem Mann, den du deinen Onkel nanntest, obgleich er in Wahrheit dein Vater gewesen ist.«
»Osbert«, flüsterte Guillaume fassungslos. »Osbert de Rein war in Wirklichkeit mein Vater?«
Sie nickte. »Ein Teil von dir hat es immer gewusst, oder nicht?«
Guillaume hatte Mühe, die Fassung zu wahren.
Dass der Baron und er so unterschiedlich waren, wie sie es nur sein konnten, war eine unbestreitbare Tatsache und dass er sein Leben lang vergeblich um die Gunst dieses ebenso starrsinnigen wie hartherzigen Mannes gerungen hatte, ließ sich ebenfalls nicht leugnen. Bislang hatte Guillaume dies darauf zurückgeführt, dass er den Anforderungen, die Renald de Rein an seinen Nachkommen und Erben stellte, einfach nicht gerecht geworden war. Nun jedoch zu erfahren, dass de Rein in Wahrheit nicht sein leiblicher Vater war, erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung.
Es lieferte eine plausible Begründung für all die Demütigungen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, und er musste die Schuld dafür, dass ihm jede Anerkennung versagt geblieben war, nicht mehr länger bei sich selbst suchen. Im Gegenteil, er war in all den Jahren einem Schatten nachgejagt, er hatte um die Zuneigung eines Mannes gerungen, der sie ihm nie würde geben können, schon deshalb nicht, weil Guillaumes bloße Existenz ein Stachel in Renald de Reins Fleisch war, ein Makel, der ihn stets an seine eigene Unzulänglichkeit und an das Versagen im Bett seiner Gattin erinnerte.
»Das ist noch nicht alles«, fuhr Eleanor leise fort. »Nun, da ich meinen Eid um deinetwillen gebrochen habe, sollst du alles erfahren.«
»Was noch?«, fragte Guillaume innerlich bebend. Waren es noch nicht genug der Enthüllungen?
»Wie du weißt, hat Osbert de Rein vor acht Jahren bei einem Jagdunfall das Leben verloren. Er stürzte in eine Schlucht, ein tragisches Unglück, wie es hieß.«
Guillaumes kantige Züge strafften sich, so als müsse er sich für diese letzte Wahrheit wappnen. »Und?«
»Es war kein Unfall. Renald de Rein hat deinen Vater ermorden lassen.«
Guillaume sog scharf nach Luft. »Seid Ihr sicher?«
»Ja, Sohn. Er wollte verhindern, dass Osbert jemals sein Schweigen brechen und ihm damit die Führerschaft streitig machen könnte. Aus diesem Grund hat er ihn getötet.«
Guillaumes Blick war starr geradeaus gerichtet, seine Kieferknochen mahlten. Die Furcht, die er von jeher vor Renald de Rein empfunden hatte, schlug in puren Hass um. Nicht mehr länger brauchte er um die Anerkennung dieses Mannes zu buhlen, nun, da er wusste, was dieser getan hatte und wessen Blut an seinen Händen klebte.
Guillaumes Rechte glitt an den Griff seines Schwertes, und er wollte aus dem Zelt zu stürmen und den Betrüger, der sich als sein Vater ausgegeben hatte, für sein Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Doch Eleanor hielt ihn zurück. »Nein, Guillaume«, sagte sie mit respektgebietender Stimme.
»Lasst mich, Mutter«, entgegnete er und versuchte, sich aus ihrem Arm zu lösen, der sich schlangengleich um ihn gewunden hatte. »Ich muss ihn bestrafen. Nach all den Jahren …«
»Er wird seine Strafe erhalten, und du wirst deine Rache bekommen. Aber nicht heute, hörst du?«
»Warum nicht?«
»Weil es töricht wäre, sein Leben für etwas zu riskieren, das wir auch einfacher haben können. Die Zeit arbeitet für uns, Guillaume, du magst es glauben oder nicht. Noch mögen diese Narren dort draußen im Überfluss schwelgen, aber der Winter steht vor der Tür, und Hunger und Mangel werden erneut im Lager einkehren. Die Menschen werden nach Erlösung rufen, und dann wirst du zur Stelle sein. Renalds Einfluss jedoch wird schwinden, und dann, mein über alles geliebter Sohn, wird der Augenblick der Rache gekommen sein. Bis dahin jedoch behalte dein Wissen für dich, hast du gehört?«
Guillaume gehorchte nicht sofort.
Noch einen Augenblick lang versuchte er, sich von seiner Mutter loszureißen. Dann sank er in die Umarmung, die sie ihm bereitwillig darbot, und vergoss bittere Tränen.
20.
Heerlager vor Antiochia
24. Dezember 1097

Weihnacht.
Um wie vieles anders war der Klang dieses Wortes hier in der Fremde. Eine seltsame Melancholie hatte von Conn Besitz ergriffen, seit die Glocken der Feldkirche zum Gebet gerufen hatten.
Der Bischof von Le Puy, der als päpstlicher Legat die Unternehmung begleitete, hatte selbst die Messe gehalten, mit der die Kreuzfahrer der Christnacht gedachten. Obschon sich infolge des jähen Wintereinbruchs Engpässe in der Versorgung eingestellt hatten, versuchten die meisten Edelleute, ihren Familien und Vasallen ein üppigeres Nachtmahl zu bieten als an gewöhnlichen Tagen.
Auch Baldric war es gelungen, ein Stück Ziegenfleisch zu beschaffen, und zusammen mit den Rüben, die Berengar erbettelt, und mit dem Hasen, den Bertrand ein Stück außerhalb des Lagers erlegt hatte, ergab sich ein Festessen, wie die Männer es lange nicht mehr genossen hatten. Doch weder das wärmende Wohlgefühl, das von einem gefüllten Magen ausging, noch die flammende Predigt, die Bischof Adhémar während der Mette gehalten hatte, konnten die dunklen Schatten vertreiben, die sich über das christliche Heer gelegt hatten und die mannigfache Gestalt besaßen.
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