Er würde weiter schweigen, so lange, bis der Erlöser kam und seinen Mund versiegelte, und nichts und niemand würde ihn davon abbringen. Er hatte sich einmal vor einem de Rein verleugnet und es sein Leben lang bereut – kein zweites Mal.
Als der Zelteingang irgendwann geöffnet wurde, nahm Baldric am Rande wahr, dass es draußen dunkel war. Mehrere von Guillaumes vermummten Schergen packten ihn und zerrten ihn nach draußen. Fackeln waren in einem weiten Kreis in den Boden gesteckt worden und beleuchteten ein karges Areal. Zwei Ochsen standen dort, die einander ihre Kehrseiten zuwandten. Auf dem Boden zwischen ihnen lag ein nackter Mann, an Armen und Beinen gefesselt.
Wenn Baldric geglaubt hatte, dass ihn nichts mehr erschüttern könnte, so wurde er in diesem Augenblick eines Besseren belehrt – denn der Mann war Bertrand!
Das gelockte Haar des Freundes hing in schweißnassen Strähnen, Gesicht und Oberkörper waren von Blessuren übersät. Ein lederner Knebel steckte in seinem Mund, der seine Gesichtszüge grotesk verzerrte. Furcht sprach aus seinen weit aufgerissenen Augen.
»Bertrand!«, rief Baldric aus und wand sich im Griff seiner Häscher. Ein Anblick, der geradezu komisch wirken musste, denn die Vermummten lachten. Am lautesten jedoch lachte ihr Anführer, der hoch zu Pferde saß.
»Sieh an«, tönte Guillaume de Rein herab. »Offenbar haben wir also doch etwas gefunden, womit wir deine verstockte Zunge wieder lösen können, sturer alter Bock!«
Er hob den Arm und ließ ihn wieder fallen. Peitschen knallten daraufhin, und die beiden Ochsen stemmten sich in entgegengesetzter Richtung in ihr Geschirr. Das Gurtzeug knarrte und spannte sich – und Bertrand, dessen Hände und Füße mit dicken Stricken daran gebunden waren, streckte sich.
»Haltet ein!«, krächzte Baldric. »Nicht einmal Ihr könnt so grausam sein, Guillaume de Rein!«
»Wie ich höre, hast du deinen Respekt bereits wiedergefunden«, höhnte der junge Baron. »Vielleicht fällt dir bei dieser Gelegenheit ja auch ein, wo dein Ziehsohn abgeblieben ist!«
Die Peitschen knallten erneut. Bertrands Körper dehnte sich noch weiter, und ein Schrei entrang sich seiner Kehle, den der Knebel jedoch zu einem halblauten Stöhnen erstickte.
»Nehmt mich«, ächzte Baldric entsetzt. »Nehmt mich an seiner Stelle!«
»Alter Narr, du hast noch nicht einmal verstanden, worum es geht, nicht wahr? Jeder Mensch hat eine schwache Stelle. Bei den meisten ist es ihre eigene Unversehrtheit, für die sie bereit sind, jeden Verrat zu begehen. Anderen jedoch – und zu ihnen gehörst du – ist das eigene Schicksal gleichgültig. Wenn es jedoch um jene geht, die ihnen nahestehen, werden auch sie angreifbar.«
Das Leder und die Stricke spannten sich noch weiter – und Bertrands Körper hob trotz seiner Leibesfülle vom Boden ab. Die dumpfen Schreie des Freundes trafen Baldric bis ins Mark.
»Wo ist Conwulf?«, verlangte Guillaume zu wissen. »Sag es mir, oder du wirst in wenigen Augenblicken erleben, wie sich die Gedärme deines Freundes über den Sand verteilen. Also?«
Baldric schwieg.
Sein Blick war auf Bertrand geheftet, der nun mehrere Handbreit über dem Boden schwebte, in der Luft gehalten von zwei Ochsen, die mit der ganzen Kraft ihrer massigen Körper an ihm zerrten. Schon jetzt hatte es den Anschein, als würden die Arme des Freundes jeden Augenblick aus ihren Gelenken gerissen.
»Baldric!«, fuhr Guillaume ihn an. »Mach endlich das Maul auf! Oder muss dein bester Freund deinen Starrsinn mit dem Leben bezahlen? Nur ein Wort von dir, und er ist frei.«
Baldric biss sich auf die Lippen, aber seine Entschlossenheit bröckelte.
Die Peitschen knallten abermals, und die Ochsen warfen sich nach vorn. Bertrands Schrei war jetzt auch durch den Knebel hindurch deutlich zu vernehmen. Von Enstetzen geschüttelt, sah Baldric den Freund in der Luft schweben, nackt und schutzlos, die Gliedmaßen zum Zerreißen gespannt. Ein bizarrer Anblick – dem er im nächsten Moment ein Ende setzte.
»In Acre!«, rief Baldric, so laut er konnte. »Conwulf ist in Acre!«
»Du sagst mir Dinge, die ich längst weiß, alter Narr«, schalt ihn Guillaume. »Wo in Acre verbirgt sich der Angelsachse? Ich weiß, dass er zu der Jüdin wollte, wo also ist er?«
Bertrand schrie nur noch lauter – und Baldric wusste, dass er verloren hatte. »Im jüdischen Viertel«, erklärte er resignierend. »Fragt nach einem Tuchhändler namens Ben Amos!«
»Und das ist die Wahrheit?«
»Ja, verdammt, nun lasst Bertrand endlich frei, ich beschwöre Euch.«
In unendlicher Langsamkeit drehte Guillaume de Rein sich zu seinen Leuten um und gab ihnen ein Zeichen. Daraufhin trat einer der Männer vor und hieb das Seil an Bertrands Beinen durch. So plötzlich von ihrer Zuglast befreit, stampften die beiden Ochsen einige Schritte vorwärts, ehe sie ihre Körpermassen abfangen konnten, wobei der eine Bertrands nackten Körper hinter sich herschleifte. Stöhnend vor Schmerz und Pein wälzte sich der Freund im Sand, der an seinem schweißnassen Körper haften blieb. Der Blick, den er Baldric schickte, war voller Bedauern.
»Wie ich bereits sagte«, meinte Guillaume, der sein Pferd vor Baldric lenkte, damit er hochmütig auf ihn herabblicken konnte, »jeder Mensch hat eine schwache Stelle. Ich denke, die deine haben wir gefunden, alter Mann.«
Damit gab er seinen Leuten ein weiteres Zeichen – und die Klinge, die soeben den Strick durchtrennt hatte, fuhr ein zweites Mal nieder, diesmal geradewegs in Bertrands Herz.
Baldrics heiserer Entsetzensschrei gellte durch die Nacht – begleitet von Guillaume de Reins schallendem Gelächter.
22.
Garnison von Acre
Tags darauf

»Danke, dass Ihr mich empfangt, Herr.«
Chaya neigte das Haupt, als sie das Wachlokal betrat. Der schlichte steinerne Bau lehnte sich unmittelbar an die Stadtmauer an. Stroh lag auf dem Boden verstreut, das den Wachsoldaten als Schlafstatt diente. Ein einfacher Hocker und ein kleiner Tisch bildeten die karge Einrichtung. Der Mann, der an dem Tisch gesessen und in einem Buch gelesen hatte, erhob sich, als sie eintrat. Dabei musste er sich abstützen, das linke Bein schien ihm Schmerzen zu bereiten, wohl die Folge einer Verletzung.
Durch Caleb hatte Chaya schon viel von Bahram al-Armeni gehört, dem Hauptmann, der aus dem fernen Tal Bashir stammte und seinem christlichen Glauben zum Trotz einen Offiziersrang in der Armee des Kalifats bekleidete, und sie war der Ansicht gewesen, dass Calebs überaus wohlwollende Beschreibung des Armeniers der naiven Schwärmerei zuzuschreiben war, die ihr Cousin für das Soldatentum hegte. In diesem Augenblick jedoch stand sie Bahram zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sie kam nicht umhin, beeindruckt zu sein: Die feingeschnittenen Gesichtszüge, die intelligenten Augen und die Tatsache, dass sie ihn beim Lesen eines Buches angetroffen hatte, ließen sie hoffen, dass der armenische Hauptmann kein brutaler Schlächter war.
»Ihr braucht mir nicht zu danken«, antwortete Bahram mit einer Sanftheit, die Chayas Eindrücke zu bestätigen schien. Er bediente sich des Aramäischen, das dem Gemeinhebräisch zumindest so verwandt war, dass eine Verständigung ohne Übersetzer möglich war. »Euer Ehemann, mein Unterführer Caleb Ben Ezra, sagte mir, dass Ihr mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünscht. Einer Angelegenheit, die den gefangenen Engländer betrifft.«
Chaya nickte. »Ja, Herr.«
»Caleb sagte mir, dass Ihr den Engländer kennt?«
»Auch das ist wahr.«
»Nun?«, fragte er und schaute sie abermals prüfend an. »Worum also geht es dabei?«
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