Jetzt lagen sie also hier in der verwaisten Knechtekammer unter dem Giebeldach des Herrenhauses, dem Ort, welcher seit der Schwangerschaft der Herrin zum Schlafgemach des Ritters Wilhelm geworden war und an dem sie sich schon so häufig mit ihm hatte treffen müssen, während seine Frau unten in ihrem Zimmer saß und stickte.
Die Herrin war eine ruhige, zurückhaltende Frau. Sie sprach nicht viel, gab den Bediensteten kaum Anweisungen, und selbst mit ihrem einzigen Kind, dem nunmehr dreijährigen Knaben Heinrich, redete sie so gut wie kein Wort. Ihre Kammer verließ sie nur selten, sie las Bücher oder verrichtete Handarbeiten. Doch manchmal, ganz unvermittelt, veränderte sie sich. Man wusste nicht, was in sie gefahren war, wenn diese Wutanfälle kamen. Vom Teufel sei sie besessen, so sprach die alte Magd hinter vorgehaltener Hand, und selbst ihr Mann, der grobe Ritter Wilhelm, bekam es in solchen, jedoch seltenen Momenten mit der Angst zu tun.
Jetzt nahte wieder einmal ein solcher Moment. So dachte Johanna, während ihr Herr, der immer noch auf ihr lag, nichts zu bemerken schien. Da waren nämlich Schritte zu hören, laute Schritte. Die morschen Stufen der Holzstiege knarrten, jemand kam die Treppe zum Dachboden herauf. Und wer anders könnte es sein als die wütende Frau, die ihren Gatten mit dessen Buhlin ertappen wollte? Nicht, dass sie nichts von dessen Zusammenkünften mit der Amme wusste. Jeder wusste es. Aber in den rasenden Momenten ihrer Wutattacken war die Dame unberechenbar und all ihr Gleichmut wie weggeblasen. In solchen Momenten war sie zu allem fähig.
»Die Herrin kommt«, keuchte Johanna und versuchte, den heißen, schweißnassen Körper des Mannes von sich zu stoßen.
Anstatt die unwillige Frau wieder in seine Gewalt zu bringen, wie es normalerweise die Art Wilhelms von Eicheck war, hielt er tatsächlich inne, lauschte mit vor Schreck geweiteten Augen, sprang dann flink wie ein Wiesel von Johanna herunter und stieß leise, aber fast panisch hervor:
»Verbirg dich in der Truhe. Schnell!«
Er hatte gerade die mit mottenzerfressenem, grauem Leinen gefüllte Holzkiste geöffnet, und Johanna war hineingeschlüpft, da sprang auch schon ruckartig die Tür zu der düsteren, kleinen Dachkammer auf. In der Eile musste sich ein Stück Leinenstoff in der Klappe der Truhe verfangen haben, sodass sie sich nicht völlig geschlossen hatte und einen Spalt breit offen stand. Das war Johannas Glück, da sie sonst in dem massiven Ding gewiss nach wenigen Augenblicken erstickt wäre. So bekam sie also weiterhin Luft und auch die Gelegenheit, durch die schmale Ritze zu beobachten, was nun in dem Zimmer vor sich ging.
Es war nicht die Herrin, die diese für Johanna so widerwärtige Zusammenkunft jäh unterbrochen hatte.
Es war einer der Reiter. Niemand anderes als ausgerechnet er – Philipp. Er und ein weiterer, Johanna unbekannter Mann, ein Kraftprotz ohne Hals und ohne Haare, neben dem der so breite und muskelbepackte Wilhelm wirkte wie ein schmächtiges Hähnchen. Ein Hähnchen ohne Federkleid, denn er war zudem immer noch splitternackt.
Doch Johanna konnte nur auf ihn, auf Philipp, starren. »Den Schönen« nannten ihn die anderen weiblichen Bediensteten in diesem Hause, da er zweifellos über ein angenehmes Äußeres verfügte. Hochgewachsen, schlank, mit dunklem, vollem Haar und großen, grauen Augen, hätte er sicherlich jedes Frauenherz für sich gewinnen können, wenn – ja, wenn er nicht auch etwas an sich gehabt hätte, was die abergläubische alte Magd als »dämonisch« bezeichnete. Und Johanna wusste nur zu gut, wie recht die unwissende Alte damit hatte.
Nun stand Philipp also dem nackten Wilhelm gegenüber, neben ihm der Kahlkopf, welcher nichts Geringeres als eine Streitaxt in der Hand hielt, und niemand sprach ein Wort. Es war eine mehr als eigentümliche Situation, und Johanna ahnte, dass dies kein freundschaftliches Beisammensein geben würde.
»Nun?«, das war das Einzige, was Philipp nach vielen, vielen Augenblicken des Schweigens sagte.
»Ich sage dir, wo es ist, ich sag es dir«, stotterte Wilhelm. Seine Stimme klang flehentlich, ja weinerlich. So hatte Johanna ihn noch nie erlebt, und fast tat er ihr leid, dieser Widerling.
»Dann sprich.«
»Im Wald hinter der krummen Linde, dort, wo wir heute auf der Jagd Rast gemacht haben, da liegt ein alter Mühlstein. Man sieht ihn vom Wegesrand aus nicht. Geht man aber wenige Schritte hinein in den Wald, so kann man ihn nicht verfehlen. Unter diesem Stein ist es vergraben. Tief vergraben, zwei Ellen tief wenigstens.« Wilhelm bebte und zitterte. Sicherlich war die nächtliche Herbstkälte, die seinen nackten, verschwitzten Körper umfing, daran nicht unschuldig, mehr noch schien es jedoch die Angst zu sein, welche ihn mit dem Eintreten dieser beiden Männer so sehr gepackt hatte.
»Gut«, sagte Philipp nur. Sein Gesicht wirkte eisern, er verzog keine Miene. Er war nicht einmal erheitert durch den seltsamen Anblick, welcher sich ihm in Form dieses schlotternden, unbekleideten Mannes bot. Der Kahlkopf neben ihm hingegen grinste unaufhörlich.
Johanna betrachtete Philipp genau. Spurlos verschwunden war er damals. Man hatte ihn für tot gehalten, tot wie die drei anderen Buben, welche vom selben Tag an unauffindbar waren. Sie allein wusste es besser und hatte dieses Geheimnis bislang für sich behalten. Aus Angst. Angst davor, dass er eines Tages zurückkehrte und seine Drohung wahrmachte. Und diese Angst ließ sie nun inständig hoffen, nicht von ihm oder seinem Spießgesellen in der Truhe entdeckt zu werden.
Doch offenbar war ihre Hoffnung vergeblich, denn im nächsten Moment fragte Philipp den bibbernden Ritter: »Bist du allein hier?«
»Mutterseelenallein.«
Philipp neigte seinen Kopf und blickte Wilhelm von oben herab kühl und ungläubig an.
»Niemand weiß von dem Geld«, stammelte dieser weiter. »Niemand.«
Jetzt schweifte der kühle Blick durch die ganze Kammer und fiel auch auf die Truhe. Er musste auf die Truhe fallen, denn sie war mit Ausnahme des uralten Bettes das einzige Möbelstück in dem kleinen Raum.
»Dein Weib muss tatsächlich garstig sein, dass du dich jede Nacht in ein derartiges Rattenloch verziehst, Wilhelm«, meinte Philipp schließlich und setzte sich ausgerechnet auf die Truhe, sodass sich nun doch der Deckel gänzlich schloss.
Fortan vernahm Johanna die Vorgänge im Raume nur noch dumpf und weit entfernt. Sie rang schon nach kurzer Zeit nach Atem und war so sehr damit beschäftigt, nicht zu ersticken, dass sie kaum mehr darauf achtete, was die Männer miteinander sprachen. Sie konnte lediglich ausmachen, dass Wilhelm erneut zu jammern, ja zu flehen begann und dabei immer lauter wurde, während sein Besucher nach wie vor auf ihrem Versteck sitzen blieb und sie somit bald dazu bringen würde, ebenfalls laut zu jammern.
Doch dazu kam es nicht.
Johanna hörte mit einem Mal einen dumpfen Aufprall, und dann öffnete sich ebenso plötzlich die Truhe. Zum Glück öffnete sie sich nur wieder einen Spalt weit, ebenden Spalt, der durch das eingeklemmte Leinenstück verursacht wurde. Philipp hatte sich offenbar erhoben und sprach etwas wie: »Jetzt, du abscheulicher Strolch, weißt du, mit wem du es die ganze Zeit zu tun hattest.«
Johanna hörte nicht auf diese Worte. Sie konzentrierte sich allein darauf, leise zu atmen und nicht keuchend nach der nun einströmenden frischen Luft zu schnappen. Es gelang ihr tatsächlich, sich zu beherrschen.
Vorsichtig lugte sie sodann wieder durch die Ritze. Das Talglicht, das den Raum bislang spärlich beleuchtet hatte, war umgekippt und erloschen, sodass es nun sehr viel dunkler in der Dachkammer war. Und die Laterne, welche die beiden Eindringlinge dabeigehabt hatten, verschwand in ebendiesem Moment zusammen mit ihnen durch die Tür aus dem Zimmer. Sie gingen also fort und hatten Johanna nicht entdeckt.
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