Rabbi Mortera hielt abermals inne. »Meine Geschichtsstunde ist damit beendet. Meine große Hoffnung ist nun, dass du verstehst, dass wir immer noch ein separiertes Volk sind, dass wir, obwohl wir heute eine begrenzte Freiheit genießen, niemals ganz und gar autonom sein können . Selbst heute ist es nicht einfach, uns als freie Menschen selbst zu erhalten, weil uns so viele Berufe verschlossen sind. Denk daran, Baruch, wenn du über ein Leben ohne diese Gemeinde nachdenkst. Es könnte sein, dass du den Hungertod wählst.«
Baruch wollte antworten, doch der Rabbiner brachte ihn mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen. »Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen möchte. In diesen Tagen wird das eigentliche Fundament unserer religiösen Kultur angegriffen . Die Wellen von Immigranten, die noch immer aus Portugal über uns hereinbrechen, sind Juden ohne jegliche jüdische Ausbildung. Es war ihnen verboten, Hebräisch zu lernen; sie wurden gezwungen, die katholische Glaubenslehre zu lernen und den katholischen Glauben zu praktizieren. Sie stehen zwischen zwei Welten, mit einem unsicheren Glauben an die katholische Lehre einerseits und an jüdische Glaubensgrundsätze andererseits. Es ist meine Mission, sie zurückzugewinnen, sie wieder nach Hause zu holen, zurück zu ihren jüdischen Wurzeln zu führen. Unsere Gemeinde wächst und entwickelt sich: Wir bringen bereits Wissenschaftler, Poeten, Stückeschreiber, Kabbalisten, Mediziner und Drucker hervor. Wir stehen an der Schwelle zu einer bedeutenden Renaissance, und es gibt hier einen Platz für dich. Deine Bildung, dein wacher Geist und deine Begabung als Lehrer wären uns eine unendlich große Hilfe. Wenn du an meiner Seite unterrichtetest und meine Aufgaben übernähmest, wenn ich nicht mehr bin, würdest du die Träume deines Vaters erfüllen – und auch meine Träume.«
Verblüfft sah Baruch dem Rabbiner in die Augen: »Was meinen Sie mit ›meine Aufgaben übernehmen‹? Ihre Worte verwirren mich. Vergessen Sie nicht, dass ich ein Krämer bin, und ich stehe unter Cherem .«
»Der Cherem steht noch bevor. Er ist erst dann Wirklichkeit, wenn ich ihn in der Synagoge öffentlich ausgesprochen habe. Ja, die Parnassim sind die letzte Instanz, aber mein Einfluss auf sie ist groß. Zwei Marranen, Franco Benitez und Jacob Rodriguez, die sich uns gerade erst angeschlossen haben, legten gestern vor den Parnassim Zeugnis ab, ein Zeugnis, welches dich schwer belastet. Sie berichteten, du glaubtest, dass Gott nichts weiter als die Natur sei und dass es kein Leben nach dem Tod gebe. Ja, das war schwerwiegend, doch unter uns gesagt, misstraue ich ihrer Aussage, und ich weiß, dass sie deine Worte verzerrt haben. Sie sind Neffen von Duarte Rodriguez, der dir noch immer zürnt, weil du dich an das holländische Gericht wandtest, um deine Schuld an ihn nicht bezahlen zu müssen. Ich bin davon überzeugt, dass er sie zum Lügen anstiftete. Und glaube mir, ich bin nicht der Einzige, der das glaubt.«
»Sie haben nicht gelogen, Rabbi.«
»Baruch, besinne dich. Ich kenne dich seit deiner Geburt, und ich weiß, dass du wie jeder andere von Zeit zu Zeit auf törichte Gedanken kommen kannst. Ich flehe dich an: Studiere mit mir, lass mich deine Seele läutern. Und nun höre mir zu. Ich schlage dir ein Angebot vor, das ich niemandem sonst auf der Welt vorschlagen würde. Ich bin sicher, dass ich dir eine lebenslange Rente garantieren kann, welche dich auf Dauer vom Handelsgeschäft befreit und in ein Leben als Gelehrter führt. Hörst du? Ich biete dir das Geschenk eines Lebens für die Wissenschaft, ein Leben mit Lesen und Denken. Du darfst sogar verbotene Gedanken denken, während du in der rabbinischen Wissenschaft nach bestätigenden oder widersprüchlichen Hinweisen suchst. Denke über mein Angebot nach: ein Leben in vollkommener Freiheit. Es ist nur an eine einzige Bedingung geknüpft: Schweigen . Du musst zustimmen, dass du alle Gedanken für dich behältst, die unserem Volk Schaden zufügen.«
Baruch schien tief in Gedanken versunken. Nach langem Schweigen fragte der Rabbiner: »Was sagst du dazu, Baruch? Nun, wenn es an der Zeit ist, dass du sprichst, bleibst du stumm.«
»Öfter, als ich mich erinnern kann«, antwortete Baruch mit ruhiger Stimme, »sprach mein Vater von seiner Freundschaft zu Ihnen und seiner großen Wertschätzung für Sie. Er erzählte mir auch von Ihrer hohen Meinung, was meinen Verstand betrifft – ›grenzenlose Intelligenz‹, das waren die Worte, die er Ihnen zuschrieb. Waren das tatsächlich Ihre Worte? Hat er Sie korrekt zitiert?«
»Das waren meine Worte.«
»Ich glaube, dass die Welt und alles auf ihr nach natürlichen Gesetzen abläuft und dass ich meine Intelligenz dazu nutzen kann, das Wesen Gottes, die Wirklichkeit und den Weg zu einem glückseligen Leben zu entdecken, vorausgesetzt, ich setze sie auf vernünftige Weise ein. Das sagte ich Ihnen schon einmal, nicht wahr?«
Rabbi Mortera legte seinen Kopf in die Hände und nickte.
»Und dennoch schlagen Sie mir heute vor, dass ich mein Leben damit verbringen soll, meine Ansichten durch Hinzuziehen der rabbinischen Wissenschaft bestätigen oder widerlegen zu lassen. Das ist nicht meine Art, und das wird sie auch nicht sein. Die rabbinische Autorität beruht nicht auf der reinen Wahrhaftigkeit. Sie beruht nur auf den geäußerten Ansichten von Generationen abergläubischer Wissenschaftler, Wissenschaftler, die glaubten, dass die Welt eine Scheibe ist, die von der Sonne umkreist wird, und dass plötzlich ein Mann namens Adam aufgetaucht ist und zum Urvater der menschlichen Rasse wurde.«
»Du leugnest die Göttlichkeit der Schöpfung?«
»Leugnen Sie die Beweise, dass es bereits lange vor den Israeliten Zivilisationen gab? In China? In Ägypten?«
»Was für eine Gotteslästerung. Begreifst du nicht, dass du damit deinen Platz im Jenseits aufs Spiel setzest?«
»Es gibt keinen vernünftigen Beweis für die Existenz eines Lebens nach dem Tode.«
Rabbi Mortera war wie vom Donner gerührt. »Das entspricht genau dem, wie die Neffen Duarte Rodriguez’ dich zitierten. Und ich dachte, sie hätten auf Befehl ihres Onkels gelogen.«
»Ich glaube, Sie haben mich nicht gehört, oder Sie wollten mich nicht hören, Rabbi, als ich vorhin sagte: ›Sie haben nicht gelogen.‹«
»Und die anderen Behauptungen, die sie aufstellten? Dass du den göttlichen Ursprung der Thora leugnest, dass Moses die Thora nicht geschrieben hat, dass Gott nur auf eine philosophische Art existiert und dass zeremonielle Vorschriften nicht heilig sind?«
»Die Neffen haben nicht gelogen, Rabbi.«
Rabbi Mortera starrte Baruch an, und seine Seelenqual schlug in Wut um. »Jede einzelne dieser Behauptungen ist ein Grund für einen Cherem ; zusammengenommen verdienen sie den größten Cherem , der jemals ausgesprochen wurde.«
»Sie waren mein Lehrer für Hebräisch, und Sie haben mich gut unterrichtet. Erlauben Sie mir, mich dadurch erkenntlich zu zeigen, dass ich den Cherem für Sie zusammenstelle. Sie zeigten mir einmal einige der brutalsten Cherems , die von der venezianischen Gemeinde verhängt wurden, und ich kann mich noch an jedes einzelne Wort erinnern.«
»Ich sagte vorhin, dass für deine Unverschämtheiten später noch Zeit genug sein wird. Jetzt stelle ich fest, dass es schon so weit ist.« Rabbi Mortera hielt inne, um sich zu sammeln. »Du willst mich töten. Du willst mein Werk vollkommen zerstören. Du weißt, dass mein Lebenswerk die zentrale Rolle eines Lebens nach dem Tode im jüdischen Gedanken und der jüdischen Kultur umfasst. Du kennst mein Buch She’erut Ha-Nefesh , das ich dir anlässlich deiner Bar Mitzwa überreicht habe. Du kennst meine große Debatte mit Rabbi Aboab über dieses Thema und dass ich den Sieg errungen habe?«
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