»So erfüllt sich die Prophezeiung der Kabbala«, stammelte Pico. »Das Jahr 1492 wird das Jahr des Untergangs, wie es die jüdischen Weisen aus dem Buch Hiob errechnet haben.«
Michelangelo verstand den Grafen nicht und ging ein paar Stufen auf ihn zu.
»Er ist tot!«, rief Pico mit leeren Augen und versteinerter Miene. »Lorenzo il Magnifico lebt nicht mehr. Möge sich Gott seiner armen Seele erbarmen. Möge Gott sich unser erbarmen! Mit seinem Tod, der ihm nichts mehr anhaben kann, beginnen unsere Leiden!« Dann brach er in die Knie, und sein Oberkörper sank vornüber. Er weinte hemmungslos wie ein Kind und breitete die Arme aus, als suche er nach einem Halt.
Entsetzt sah Michelangelo auf den gebrochenen Mann hinunter, der schluchzend auf den Stufen kauerte. Lorenzo de Medici hatte den vom Papst gebannten und von der Inquisition verfolgten Philosophen beschützt. Mit einem Mal begriff Michelangelo, dass es nicht die Angst um das eigene Leben war, die aus Picos heftiger Reaktion sprach, nicht die vorübergehende Trauer um einen geschätzten Menschen. Es war das Wissen, dass sich ihre Welt veränderte, dass nun die Stürme über sie hereinbrechen würden. Lorenzo war für sie alle ein Schutzschild gewesen. Was sollte aus ihnen werden, jetzt, da man sie ihres Patrons beraubt hatte?
Michelangelo hörte Schritte hinter sich und wandte sich um. Oben auf der Treppe erschien Contessina. In ihren blicklosen Augen sah er keine Träne. Mit unbewegtem Gesicht stand sie da wie eine Statue. Und dann flammte er doch kurz auf in ihren Augen – der Vorwurf.
12

Rom, Anno Domini 1505
All die Jahre hatte er Contessinas Blick nicht vergessen können. Er fürchtete jene Momente, an denen ihn die Erinnerung an sie und an die Gefährten überkam. Viele der Fedeli waren längst tot, Landino, der Philosoph Ficino, der Dichter Poliziano und sein Freund Pico della Mirandola. Aus Contessina war inzwischen eine Gräfin Ridolfini, mehrfache Mutter und ehrbare Gattin geworden. Niemand wusste es, aber als er seine Pietà schuf, hatte Michelangelo sein ganzes Leid in den Schmerz auf dem Gesicht der Gottesmutter gegossen. Das Werk war für ihn das Mausoleum seiner verlorenen Liebe. Und wie hätte die-se Liebe ihn beim Schaffen inspirieren können?
Er zerknüllte auch den letzten gerade begonnenen Entwurf für das Grabmal des Papstes, als jemand heftig an seine Tür klopfte. Mit einem mürrischen Laut stand er auf und wollte dem Besucher öffnen, doch da stand Giuliano da Sangallo bereits im Raum.
»Nicht einmal dein Haus hältst du verschlossen!«, rief er. »Ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich, mein Freund.«
»Und weshalb?«, fragte Michelangelo verblüfft.
Der Architekt zog das ausladende schwarze Barett vom Kopf, warf es achtlos auf einen Schemel und schritt erregt in der Kammer auf und ab. Vor Anspannung kniff er den Mund zusammen, wodurch sich das welke Fleisch seiner Wangen ein wenig hob.
»Weshalb, weshalb, weshalb!« Er riss die Arme in die Höhe. »Kannst du dir das nicht denken? Du spielst auf Leben und Tod, Michelangelo. Julius ist jähzornig. Wenn du seine Vorstellungen nicht triffst, ist deine Karriere in Rom beendet! Dabei hat sie, wenn man es recht betrachtet, noch nicht einmal begonnen. Der kluge Mann sichert sich ab«, setzte Sangallo hinzu und beendete seine Rede mit einem kräftigen »Merda!« , wobei seine Gesichtsfarbe ins Rote wechselte und seine Barthaare bedrohlich zitterten.
Michelangelo stand auf, rückte einen Stuhl vor, und Sangallo ließ sich erschöpft darauf nieder. »Sollte dein Entwurf den Papst gar beleidigen, weil das Grabmal zu klein ist oder ihn an den Borgia oder an Gott weiß wen und was erinnert«, fügte er etwas leiser hinzu, »dann sind fehlende päpstliche Aufträge noch das geringste Übel, das dir von seiner Seite widerfahren kann, mein David. Unser heiliger Vater ist nämlich ein großer Hasser vor dem Herrn.«
Michelangelo musste lächeln, als Sangallo ihn mit David verglich, jenem biblischen Knaben, der Goliath besiegt und dessen Statue er vor Jahresfrist für die Florentiner geschaffen hatte.
»Seiner Heiligkeit würde es gar nicht gefallen, mein beunruhigter Freund, dass du ihn mit dem tumben Goliath gleichsetzt«, meinte der Bildhauer.
»Ach, hol dich doch der Teufel! Und rede verdammt noch mal mit mir nicht wie mit einem Höfling. Verrate mir lieber, was du jetzt zu tun gedenkst!«
»Zeichnen«, gab Michelangelo barsch zurück, wobei sein Ärger weniger dem Freund galt als sich selbst, weil alles, was er bisher entworfen hatte, nichts taugte.
»Ja, aber was willst du zeichnen?«, brüllte Sangallo, den es vor Empörung nicht auf dem Stuhl hielt.
»Den Entwurf des Grabmals«, erwiderte Michelangelo ruhig. »Lieber Freund, es ist doch ganz einfach. Es wird das größte und schönste Monument, das die Welt je gesehen hat. Es kann ihm nicht missfallen, ganz ausgeschlossen!«
»Wieso bist du so fest davon überzeugt?«, fragte Sangallo, der aus Verzweiflung über die Selbstsicherheit Michelangelos ganz blass geworden war.
»Weil ihm das Größte und Schönste nicht missfallen kann«, war die Antwort.
Sangallo kniff die Augen zusammen und musterte seinen jungen Schützling. Nein, er wurde nicht verspottet, er blickte in ein sehr ernsthaftes Gesicht. Nicht Hochmut oder Überheblichkeit sprachen aus Michelangelos Worten, nur die Gewissheit des eigenen Könnens. Dieser setzte sich wieder an den Tisch und sprach seine Überzeugungen aus, während sein Bleigriffel schon über das Papier flog.
»Es ist das Ende der Kunst, wenn sie nur noch Geschmackssache ist, sodass Krethi und Plethi meinen, sie könnten sich ein Urteil darüber erlauben. Der Kunst darf es nicht darum gehen, dem Volk zu gefallen – auch den Mächtigen nicht –, sie hat einzig danach zu streben, sich selbst zu gefallen. Denn wer könnte höhere Maßstäbe an die Kunst anlegen als die Kunst selbst?«
Sangallo schwieg eine Weile. Dann stieß er fast tonlos hervor: »So gebe Gott uns immer kunstverständige Herren.«
»Ja, und Amen«, sagte Michelangelo und nutzte die Gelegenheit, den Zorn, den er auf sich selbst empfand, an anderen auszulassen. »Unter der Herrschaft der Schweine wird die Welt zu einem Schweinestall. Und wer, mein Freund, braucht einen David neben dem Koben und wer eine Gioconda über der Suhle? Nein, wir werden immer kunstverständige Herren haben, weil wir durch die Kunst mit Gott reden und Gott mit uns. Die Maße der Kunst sind Gottes Maße.«
»Solange wir an Gott glauben«, sagte der Architekt und erschrak sogleich, als er die Konsequenz seiner Worte bedachte. Auch Michelangelo hatte den Bleigriffel sinken lassen. So weit hatte er noch nie gedacht. Eine Welt ohne den Glauben an den Allerhöchsten war ihm schier unvorstellbar – oder genauer, sie musste Dantes »Inferno« entsprechen. Er brauchte einige Zeit, um aus dem Labyrinth des Schreckens herauszufinden. Sangallo hatte sich wieder auf dem Stuhl niedergelassen. Sein rechtes Bein, das er über das linke geschlagen hatte, wippte unruhig auf und ab.
»Wenn wir nicht mehr an Gott glauben, wird es auch keine Kunst mehr geben. Der Teufel ist kein Mäzen«, sagte Michelangelo leise.
In dem langen, bedrückenden Schweigen, das nun folgte, überkam die beiden Männer ein Frösteln, als schämten sie sich, weil sie leichtfertig etwas Frevlerisches geäußert hatten. Selbst Sangallos Fuß kam in dieser unheimlichen Stille zur Ruhe. Nur einen Moment lang – aber das war ausreichend gewesen, um sie zu verstören – hatte sich ihnen eine Welt ohne Maß gezeigt. Einen Wimpernschlag lang hatten die Dämonen die Hölle verlassen und die beiden Männer ahnen lassen, in welcher Weise sie über die Menschen herfallen, Frauen vergewaltigen, Kinder erschlagen, Männer an den Hoden aufhängen würden.
Читать дальше