Staubwolken verhüllten das Schlachtfeld. Als sie sich zerteilten, sah Hannibal, daß das Ufer der Trebia mit Leichen und zerbrochenen Waffen übersät war. Nur zehntausend Legionären mit Sempronius an der Spitze gelang es, die Umzingelung der Karthager zu durchbrechen und zu entkommen.
Als Dukarion eines Morgens zu Hannibal ging, stand vor dessen Zelt ein Krieger in knöchellangen Hosen und leichtem Umhang. Der Kleidung nach also ein Iberer. Der Unbekannte nahm den Helm ab, und der Morgenwind spielte in seinem rotblonden Haar.
Dukarion kannte alle Freunde Hannibals, die Zugang zu seinem Zelt hatten, aber diesen Rotblonden sah er zum erstenmal.
„Tritt ein, Dukarion!" redete der Mann ihn an und schlug höflich den Zeltvorhang zurück.
„Woher kennst du mich?" fragte der Gallier erstaunt.
„Ich bin Hannibals neuer Leibwächter. Er sagte mir, daß du kommen würdest, und beauftragte mich, mit dir zu reden."
Besorgt trat Dukarion ins Zelt. Bisher hatte Hannibal immer ohne Mittelsmänner mit ihm gesprochen, wenn er seinen Rat einholen oder ihm einen Befehl geben wollte. Und das schmeichelte dem Gallier, erhob ihn über seine Stammesgenossen. Ob Hannibal mir zürnt? fragte er sich. Oder ob ihm etwas zugestoßen ist?
Neben dem Eingang, auf dem Teppich, wo Hannibal zu schlafen pflegte, lag sein Schwert, von dem er sich niemals trennte. Verständnislos sah Dukarion es an. Noch besorgniserregender fand er die beiden Löcher in der Zeltwand, genau über dem Teppich.
„Was ist Hannibal zugestoßen?" rief er entsetzt. „Woher stammen diese Löcher?"
„Beruhige dich", erwiderte der Rotblonde, „und setz dich auf den Teppich. Hannibal lebt noch. Die Verschwörer haben sich verrechnet. Sie wußten nicht, daß der Feldherr Tag und Nacht keine Ruhe kennt."
„Wer waren diese Verschwörer?" forschte Dukarion.
„Die Spuren führen zum Zelt jener Gallier, die erst vor kurzem zu unserem Heer stießen, zu den Männern, die unter deinem Befehl stehen. Zudem bist du selbst ein Gallier. Du mußt am besten wissen, aus welchem Grunde die Gallier dem Feldherrn nach dem Leben trachten."
„Hat dich Hannibal beauftragt, mir diese Frage zu stellen?"
„Ja, das ist sein Wille, nein, seine Bitte", verbesserte sich der Rotblonde.
Dukarion überlegte.
„Bist du schon einmal irgendwo zu Gast gewesen?" fragte er dann.
Der Rotblonde nickte.
„Dann müßtest du wissen", fuhr Dukarion fort, „daß der Hausherr den Gast, der nicht allzu lange bleibt, am höchsten schätzt. Ein Gast muß wissen, wann er zu gehen hat, weil sonst beim Hausherrn der Eindruck entsteht, als wollte er für immer in seinem Hause bleiben."
„Ich verstehe, Dukarion", antwortete der Rotblonde. „Aber wenn der Hausherr seines Gastes überdrüssig wird, weshalb sagt er ihm das nicht offen ins Gesicht?"
„Das könnte der Hausherr tun", räumte Dukarion ein. „Aber er kennt seinen Gast nicht genau und fürchtet, daß eine solche Offenheit dessen Zorn erregen würde. Dadurch" - er wies auf die Löcher im Zelt -„wollten die Gallier Hannibal warnen."
„Und was rätst du ihm?"
„Es steht mir nicht zu, Hannibal Ratschläge zu erteilen, doch wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich nicht bis zum Frühjahr warten, sondern unverzüglich nach Rom abrücken."
„Vielen Dank für den Rat, Dukarion", sagte der Rotblonde. „Ich habe deinen Verstand und deine Ergebenheit schon immer geschätzt."
„Du?" fragte Dukarion erstaunt. „Ich sehe dich zum erstenmal."
Der Rotblonde lächelte, riß sich mit einem Ruck die Perücke ab, und vor dem verblüfften Dukarion stand Hannibal.
„Mach kein so erstauntes Gesicht", lachte er. „Ich weiß, daß du mein Freund bist. Wenn ein römischer Konsul ums Leben kommt, wählen die Römer einen neuen. Doch wenn mir etwas zustößt, löst sich das Heer auf. Magon ist noch zu jung, Hasdrubal ist in Iberien. Deshalb wird von nun an ein rotblonder Leibwächter im Zelt des karthagischen Feldherrn schlafen. Hast du verstanden?"
Die waldbedeckten Höhen des Apennins wirkten wie der zottige Rücken eines sprungbereiten Raubtieres. Furchtlos zog das Heer ihm über die schmale, gewundene Straße entgegen. An der Spitze gingen die Elefanten, ihnen schlossen sich die afrikanischen, gallischen und iberischen Fußsoldaten an. Den Schluß der Kolonne bildete die Reiterei. Es war ein klarer Wintermorgen, und die Sonne schien auf die Helme der Krieger und auf ihre blankgeputzten Schilde, auf die numidischen Pferde und die Proviantfuhrwerke, die die Gallier Hannibal zur Verfügung gestellt hatten aus Erleichterung darüber, daß ihr Dauergast endlich aufgebrochen war.
Hannibal hatte beschlossen, die Poebene zu verlassen, ohne das Frühjahr abzuwarten. Er wußte, daß sich die Römer von den ersten beiden empfindlichen Niederlagen noch nicht erholt hatten. Je schneller er ihnen die dritte zufügte, um so begründeter würde die Hoffnung auf einen endgültigen Sieg sein.
Dukarion kannte den Apennin genau, und er hatte versichert, daß dem Heer dort keine Abgründe oder feindliche Überfälle drohten, im Gegensatz zu den Alpen. Daraufhin hatte sich Hannibal trotz der winterlichen Jahreszeit zum Weitermarsch entschlossen.
Gegen Mittag schoben sich schwarze Wolken vor die Sonne. Von den Felsenhängen kam ein kalter Hauch. Mit Schnee vermischter Regen peitschte den Kriegern ins Gesicht, daß sie nach Atem rangen. Augenbrauen und Bart bereiften, die nassen Kleider vereisten.
Hannibal befahl, Zelte aufzuschlagen. Der Sturm riß sie ab. Wie gigantische Vögel klatschten sie mit den Schwingen ihrer Leinenbahnen. Kurz darauf fielen spitze Eisstückchen vom Himmel. Hannibal hatte schon früher von dieser seltsamen Naturerscheinung gehört, die man Hagel nennt, und jetzt spürte er sie auch am eigenen Körper. Die Hagelkörner prasselten auf Helme, Rücken und Knie der Krieger, die sich hastig die Schilde über den Kopf hielten und schutzsuchend zu überhängenden Felsen rannten.
Nur die Balearer blieben mitten im Hagel stehen. Sie spähten unter der vorgehaltenen Hand zum Himmel. Viele nahmen sich sogar die Schnur vom Hals, als wollten sie ihre Kraft mit diesen unsichtbaren Himmels-schleuderern messen.
„Lagerfeuer anzünden!" befahl Hannibal.
Er wußte, daß schnelle Bewegungen jetzt die einzige Rettung für seine Krieger waren. Wenn er ihnen keine Arbeit gab, würden sie sich in Eiszapfen verwandeln. - Er schalt, befahl, drängte zur Eile.
Hastig fällten die Krieger mit den Schwertern Sträucher und junge Bäume, die an den Felshängen wuchsen; kurz darauf loderten die Feuer auf. So dicht wie möglich hockten sich die Krieger davor, aber der ätzende Rauch trieb ihnen die Tränen in die Augen, und bei jedem Windstoß wurden sie von einem Funkenregen überschüttet. Dazu zuckten Blitze, und das Echo warf die Donnerschläge mit dreifacher Lautstärke zurück.
Der Sturm hörte so schnell auf, wie er gekommen war. Die Wolken zogen ab, die Sonne schien wieder auf die Straße.
Erst jetzt erkannte Hannibal, welch einen entsetzlichen Verlust das Heer erlitten hatte. Aus Angst vor dem Hagel hatten die indischen Treiber ihre Elefanten sich selbst überlassen - diese aber waren davongerannt und abgestürzt.
Nur Richad hatte Sur nicht im Stich gelassen. Er preßte das Gesicht gegen die rauhe Haut des gewaltigen Tieres. In diesem wilden, fremden Land kam er sich unendlich einsam vor. Was gingen ihn Hannibals Pläne an! Er hatte alles getan, was von ihm verlangt worden war. Und daß von der aus fünfzig Elefanten bestehenden Herde nur noch das Leittier übrig war, lag nicht an ihm.
Er streichelte Surs Rüssel. „Sur, mein Junge!" flüsterte er. Sur war ein Teil seines Vaterlandes, das fern, hinter Meeren, Bergen und Wüsten lag. Vielleicht würde er es niemals wiedersehen.
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