Als ich den geschwätzigen Alten wieder losgeworden war, ging ich weiter durch das staubige, mit Ziegenhaaren übersäte Viertel und kam an eine offene Werkstatt, in der zu meiner großen Verwunderung der schiefnasige Aquila, den ich aus Rom kannte, saß und mit Paulus um die Wette webte. Seine Frau Prisca erkannte mich sofort wieder, stieß einen Freudenruf aus und erzählte Paulus, wer ich war und wie tapfer ich einmal bei einer Schlägerei jenseits des Tibers die Christen gegen die rechtgläubigen Juden verteidigt hatte.
»Diese Zeiten sind freilich vorbei«, fügte Prisca rasch hinzu. »Wir bereuen heute den blinden Eifer, der uns dazu trieb, uns über die anderen zu stellen. Wir haben gelernt, die andere Wange hinzuhalten, wenn man uns schlägt, und für die zu beten, die uns verhöhnen.«
Sie sprach noch immer so lebhaft wie früher, und Aquila war noch immer so schweigsam wie früher und unterbrach seine eintönige Arbeit nicht, um mich zu begrüßen. Ich fragte sie über ihre Flucht aus und wie es ihnen in Korinth ergehe. Sie könnten nicht klagen, meinte Prisca, aber sie begann zu weinen, als sie der Toten gedachte, die auf der Flucht aus Rom in den Straßengräben liegengeblieben waren.
»Sie haben sich eine unvergängliche Siegespalme erworben«, versicherte sie. »Und sie starben nicht mit einem Fluch auf den Lippen, sondern priesen Jesus Christus, der sie von ihren Sünden erlöste und aus der Macht des Todes zum ewigen Leben führte.«
Ich wollte darauf nichts sagen, denn was war sie anderes als ein närrisches Judenweib, das den Ihren und den rechtgläubigen Juden in Rom großen Schaden zugefügt hatte. Ich wandte mich statt dessen voll Ehrerbietung an Paulus: »Ich habe dich gestern predigen gehört und möchte mir deine Lehre gründlich erklären lassen. Allerdings habe ich mir nach deiner Rede einige Gegenargumente zurechtgelegt, so daß wir diskutieren können, wie es sich gehört. Hier können wir nicht ungestört sprechen. Möchtest du nicht zum Abendessen zu mir kommen? Wenn ich dich recht verstanden habe, hast du, was deine Lehre angeht, nichts zu verbergen, und gewiß hindert sie dich auch nicht daran, mit einem Römer zu Tisch zu liegen?«
Zu meinem Erstaunen fühlte sich Paulus durch meine Einladung nicht geehrt. Er musterte ‚mich mit seinem stechenden Blick und erwiderte kurz, Gottes Weisheit mache alle Argumente zuschanden. Er sei nicht berufen, zu disputieren, sondern für Jesus Christus Zeugnis abzulegen auf Grund der Offenbarung, die ihm zuteil geworden war.
»Ich habe aber gehört, daß du auf dem Markt in Athen gesprochen hast«, wandte ich ein. »Und die Athener haben dich gewiß nicht ziehen lassen, ohne mit dir zu disputieren.«
Ich hatte den Eindruck, daß Paulus nicht gern an sein Auftreten in Athen erinnert wurde. Sicherlich hatte man sich dort über ihn lustig gemacht. Er versicherte mir jedoch, einige hätten ihm geglaubt, darunter sogar ein Richter. Ob sie sich wirklich von dem fremden Redner hatten überzeugen lassen oder nur aus Feingefühl geschwiegen hatten, um diesen gläubigen Menschen nicht zu kränken, darauf wollte ich nicht näher eingehen.
»Du kannst mir aber doch einige aufrichtig gemeinte Fragen beantworten, und essen mußt du wohl wie alle anderen Menschen auch«, sagte ich, nun schon ein wenig gereizt. »Ich verspreche dir, daß ich deinen Gedankengang nicht mit rhetorischen Einwänden unterbrechen werde. Ich werde nicht disputieren, sondern nur zuhören.«
Aquila und Prisca redeten ihm beide zu, er solle die Einladung annehmen, und versicherten ihm, sie wüßten über mich nichts Böses zu berichten. Während der Unruhen in Rom hätte ich einmal, gleichsam aus Versehen, an einem Liebesmahl der Christen teilgenommen. Mein Vater helfe den Armen und trete auf wie ein gottesfürchtiger Mann. Ich glaube aber nicht, daß Paulus mir aus politischen Gründen mißtraute.
Als ich wieder daheim war, gab ich meine Anweisungen wegen des Abendessens und sah mich um. Auf seltsame Weise erschienen mir die Möbel und alle anderen Gegenstände fremd, und ein Fremder war mir auf einmal auch Hierax, den ich doch gut zu kennen glaubte. Was wußte ich eigentlich über den Türhüter oder die Köchin? Dadurch, daß ich mit ihnen sprach, vermochte ich sie nicht zu ergründen, denn sie antworteten mir nur, was mir ihrer Meinung nach gefallen mußte.
Ich hätte glücklich und mit meinem Leben zufrieden sein müssen. Ich hatte Geld, Ansehen, eine gewisse Stellung im Staatsdienst, hochgestellte Gönner und einen gesunden Körper. Die meisten Menschen brachten es in ihrem ganzen Leben nicht so weit wie ich in meinen jungen Jahren schon. Und doch konnte ich nicht froh sein.
Paulus kam mit seinen Begleitern, als der Abendstern aufging. Er hieß die anderen draußen warten und trat allein bei mir ein. Aus Höflichkeit ihm gegenüber hatte ich Tücher über meine Hausgötter gehängt, denn ich wußte, daß die Juden Menschenbilder verabscheuen, und ich ließ Hierax meinem Gast zu Ehren duftende Wachslichter anzünden.
Nach einem einfachen Gemüsegericht wurde ein Fleischgericht aufgetragen, aber ich sagte ihm, er brauche nicht davon zu kosten, wenn seine Lehre ihm verbiete, Heisch zu essen. Paulus bediente sich lächelnd und erwiderte, er wolle mir kein Ärgernis geben und nicht einmal danach fragen, wo das Heisch gekauft worden sei. Für Griechen wolle er Grieche sein, für Juden Jude. Er trank sogar mit Wasser vermischten Wein, bemerkte aber, daß er aus gewissen Gründen bald ein Gelübde zu tun beabsichtige.
Ich wollte ihn nicht durch verbotene Speisen oder heimtückische Fragen in Verlegenheit bringen. Als unser Gespräch frei dahinzufließen begann, versuchte ich meine Worte so vorsichtig wie möglich zu wählen. Von Gallios und Roms Standpunkt aus war es das Wichtigste, zu erfahren, wie er sich zum römischen Staat stellte.
Er versicherte mir, er rate allen, der weltlichen Obrigkeit zu gehorchen, die Gesetze zu befolgen und alles zu vermeiden, was Anstoß erregen könnte. Er hetzte die Sklaven nicht gegen ihre Herren auf, nein, denn seiner Meinung nach sollte sich ein jeder mit seiner Stellung begnügen. Ein Sklave, sagte er, müsse den Willen seines Herrn ausführen, ein Hausvater seine Diener gut behandeln und dessen eingedenk sein, daß ein Herr ist, der über allen steht.
Meinte er damit den Kaiser? Nein. Er meinte den lebendigen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und Jesus Christus, seinen Sohn, der nach seinen eigenen Worten wiederkehren wird, um die Lebenden und die Toten zu richten.
Ich mochte nicht länger bei dieser heiklen Sache verweilen, sondern fragte ihn, welche Vorschriften für das tägliche Leben er denen gab, die er bekehrte. Darüber hatte er offenbar viel nachgedacht, aber er begnügte sich damit, zu sagen: »Tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern trachtet, einander Gutes zu tun. Seid allezeit fröhlich. Betet ohne Unterlaß. Seid dankbar in allen Dingen.«
Er sagte mir auch, daß er seine Brüder auffordere, ein stilles Leben zu führen und mit ihren Händen zu arbeiten, daß er es ihnen aber verwiesen habe, die Hurer, die Geizigen, die Räuber und Götzendiener dieser Welt zu tadeln, denn das sei nicht ihre Sache, und sie müßten sich sonst selbst aus der Welt begeben. Wenn sich aber einer ihnen zugesellt habe und erweise sich als ein Hurer oder Geiziger oder Götzendiener oder Lästerer oder Trunkenbold oder Räuber, so müsse er zurechtgewiesen werden. Besserte er sich danach nicht, so dürfe man mit ihm nichts mehr zu schaffen haben und auch nicht mit ihm essen.
Ich fragte lächelnd: »Du verurteilst mich also nicht, obgleich ich in deinen Augen gewiß ein Götzendiener, Hurer und Trunkenbold bin?«
»Du stehst draußen«, antwortete er. »Es kommt mir nicht zu, dich zu richten. Wir richten nur, die drinnen sind. Dich wird Gott richten.«
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