«Du hättest ihn beinahe entkommen lassen, Hook!», rief Sir John, als er bei der Gruppe angekommen war.
«Beinahe, Sir John.»
«Also stellen wir fest, was dieser Bastard weiß», sagte Sir John und glitt aus dem Sattel. «Und jemand soll dieses arme Pferd töten!», setzte er hinzu. «Erlöst das Tier von seiner Qual!»
Der schwere Hieb einer Kampfaxt auf die Stirn tötete das Pferd. Dann sprach Sir John mit dem Gefangenen. Er behandelte den Mann mit ausgesuchter Höflichkeit, und der Franzose erwies sich als sehr gesprächig, doch es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass, was immer er auch enthüllen mochte, Sir Johns Unwillen erregte. «Ich will ein Pferd für Sir Jules», wandte sich Sir John an die Bogenschützen. «Er soll mit dem König sprechen.»
Sir Jules wurde zum König gebracht. Die Armee wartete.
Die Vorhut war nur noch fünf Meilen von der Furt bei Blanchetaque entfernt, und Calais lag nur drei Tagesmärsche nördlich dieser Furt. In drei Tagen, also acht Tage nachdem sie Harfleur verlassen hatten, hätte die Armee in Calais einziehen sollen, und Henry hätte, wenn auch keinen Sieg, so zumindest eine Demütigung der Franzosen für sich vermelden können. Doch diese Demütigung hing von der Überquerung der breiten Gezeitenfurt bei Blanchetaque ab.
Und die Franzosen waren schon dort. Charles d'Albret, Konnetabel von Frankreich, war bereits am Nordufer der Seine, und der Gefangene, der in den Diensten des Konnetabels stand, beschrieb, dass die Furt mit angespitzten Stangen versperrt worden war und auf dem jenseitigen Ufer sechstausend Männer darauf warteten, die Engländer an der Überquerung des Flusses zu hindern.
«Es ist nicht zu schaffen», sagte Sir John an diesem Abend entmutigt. «Die Bastarde erwarten uns.»
Die Bastarde hatten die Furt gesperrt, und als es Abend wurde, zündeten sie ihre Lagerfeuer an, deren Widerschein sich an den niedrig dahinziehenden Wolken zeigte. «Die Furt kann nur bei Ebbe überquert werden», erklärte Sir John, «und selbst dann können nur zwanzig Mann nebeneinandergehen. Und zwanzig Mann können nicht gegen sechstausend ankämpfen.»
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann stellte Pater Christopher die Frage, die jeder Mann aus Sir Johns Kompanie stellen wollte, auch wenn sie die Antwort fürchteten. «Also, was tun wir jetzt, Sir John?»
«Wir suchen eine andere Furt.»
«Und wie? Sollen wir sie herbeibeten?»
«Weiter im Land», sagte Sir John grimmig.
«Also marschieren wir auf den Nabel zu», sagte Pater Christopher.
«Was tun wir?», fragte Sir John und sah den Priester an, als sei er närrisch geworden.
«Nichts, Sir John, nichts!», sagte Pater Christopher.
Also musste die englische Armee mit Verpflegung für nur drei weitere Tage tief ins Innere Frankreichs einrücken, um einen Fluss zu überqueren. Und wenn sie den Fluss nicht würde überqueren können, dann würden die Männer sterben, und wenn sie den Fluss überqueren würden, könnten sie immer noch sterben, denn ins Landesinnere zu gehen würde Zeit kosten, und diese Zeit hätten die Franzosen, um aufzuwachen und ihr Heer in Marsch zu setzen. Die hastige Jagd an der Küste entlang war gescheitert, und nun mussten Henry und seine kleine Armee ins französische Inland ziehen.
Und am nächsten Morgen wandten sie sich unter einem schweren grauen Himmel ostwärts.
In der Armee hatte bisher Hoffnung geherrscht, doch nun verbreitete sich Mutlosigkeit. Die Krankheit kehrte zurück. Ständig zügelten Männer ihre Pferde, stiegen ab, rannten an den Straßenrand und ließen ihre Hosen herunter, sodass die Nachhut durch eine Wolke aus Exkrementengestank reiten musste. Die Männer waren schweigsam und missmutig. Regenschwaden zogen von der Meerseite herein und überzogen die Kolonne mit triefender Nässe.
Jede Furt über die Somme war mit Pfählen gesperrt und bewacht. Die Brücken waren zerstört worden, und inzwischen behielt ein französischer Truppenverband die englische Armee im Blick. Es war nicht die große Armee, nicht die enorme Menge von Feldkämpfern und Armbrustschützen, die sich bei Rouen gesammelt hatte, sondern eine kleinere Truppe, die aber ausreichte, um jede Flussüberquerung zu verhindern. Sie waren jeden Tag in Sichtweite, Feldkämpfer und Armbrustschützen, alle beritten. Sie hielten sich auf dem Nordufer des Flusses bereit und richteten ihre Geschwindigkeit an der englischen Armee auf dem Südufer des Flusses aus. Mehr als einmal trieb Sir John Bogenschützen und Feldkämpfer zu einem überraschenden Galopp an, um eine Furt zu besetzen, bevor die Franzosen dort waren, doch jedes Mal wurden sie schon von ihren Gegnern erwartet. Jeder Flussübergang war von bewaffneten Kräften gesichert.
Die Verpflegung wurde knapp, auch wenn die Bewohner kleiner Städte, die nicht von einer Stadtmauer gesichert waren, unwillig Körbe mit Brot, Käse und Räucherfisch herausgaben, um einen Angriff zu vermeiden. Jeden Tag wuchs der Hunger in der englischen Armee, und jeden Tag marschierte sie tiefer ins feindliche Land.
«Warum gehen wir nicht einfach zurück nach Harfleur?», knurrte Thomas Evelgold.
«Weil wir dann Hasenfüße wären», sagte Hook.
«Immer noch besser, als zu sterben», erwiderte Evelgold.
Auch auf der englischen Seite des Flusses befanden sich feindliche Krieger. Französische Feldkämpfer beobachteten die Kolonne von niedrigen, südlicher gelegenen Hügeln aus. Gewöhnlich waren es nur kleine Gruppen, vielleicht sechs oder sieben Mann, und wenn ein paar englische Ritter sie stellen wollten, zogen sie sich zurück, auch wenn zuweilen einer der Feinde eine Lanze hob, um anzuzeigen, dass er einen Zweikampf anbot. Dann konnte es sein, dass ein Engländer den Kampf annahm, die beiden aufeinander zugaloppierten, die Lanzen mit den Eisenspitzen laut gegen die Panzerrüstungen fuhren, und danach kippte einer der Männer langsam aus dem Sattel. Einmal spießten zwei Männer sich gegenseitig auf, und beide starben, während ihnen die jeweils feindliche Lanze aus dem Körper ragte. Gelegendich griff ein französischer Verband an, vierzig oder fünfzig Feldkämpfer, die sich einen Schwachpunkt in der Kolonne gesucht hatten und ein paar Männer töteten, bevor sie wieder davongaloppierten.
Andere Franzosen sorgten schon weit vor der Kolonne für Schwierigkeiten, indem sie die Ernte fortbringen ließen, sodass die Eindringlinge nichts mehr vorfanden. Die Nahrungsmittel, die sie aus Scheunen und Getreidespeichern der Bauern holten, wurden nach Amiens gebracht. Die Engländer umgingen diese Stadt an dem Tag, an dem sie nach dem ursprünglichen Plan in Calais hätten eintreffen sollen. Ihre Verpflegungsbeutel waren leer. Hook hatte durch den dünnen Sprühregen auf den weißen Schemen der Kathedrale von Amiens weit vor ihm gestarrt, und er hatte an all die Nahrungsmittel hinter den Stadtmauern gedacht. Er war hungrig. Sie alle waren hungrig.
Am nächsten Tag lagerten sie in der Nähe einer Burg, die sich auf einem weißen Kalksteinkliff erhob. Sir Johns Feldkämpfer hatten ein paar feindliche Ritter gefangen genommen, die der Vorhut zu nahe gekommen waren, und die Gefangenen hatten mit prahlerischen Worten ausgemalt, wie die Franzosen Henrys kleine Armee schlagen würden. Sie hatten diese Prahlerei auch vor Henry selbst wiederholt, und danach brachte Sir John seinen Bogenschützen neue Befehle des Königs. Er stand bei den Lagerfeuern und sagte: «Morgen früh schneidet jeder einen Stock von der Länge eines Bogenschafts. Und wenn möglich noch länger! Ihr sucht euch Äste von der Dicke eines Arms und spitzt beide Enden an.»
Regentropfen verzischten in den Flammen. Hooks Bogenschützen hatten ein kümmerliches Mahl hinter sich: einen Hasen, den Tom Scarlet mit einem Pfeil gejagt und Melisande über dem Feuer geröstet hatte. Dazu gab es flache Brote aus einer Mischung von Hafer und Eichelmehl. Außerdem hatten sie ein paar Nüsse und einige wenige harte grüne Äpfel gehabt. Ale war keines mehr da, ebenso wenig wie Wein, also tranken sie Wasser aus dem Fluss. Nun hatte sich Melisande in Hooks großes Kettenhemd gewickelt und kauerte neben ihm.
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