«Um den zu spannen, brauchst du Kraft», sagte Venables zweifelnd. «Gott weiß, was sich dieser Bogner gedacht hat! Hat wohl gemeint, Goliath braucht vielleicht eines Tages auch mal einen Bogen, was?»
«Er wollte den Schaft nicht kürzen», vermutete Hook, «weil er einfach vollkommen ist.»
«Wenn du ihn spannen kannst, Junge, dann gehört er dir. Nimm dir eine Armschiene», sagte Venables und deutete auf einen Stapel Armschienen aus Horn, «und eine Sehne.» Er zeigte Hook ein Fass mit Schnüren.
Die Sehnen fühlten sich leicht klebrig an, denn der Hanf war mit Hufleim ummantelt worden, um die Schnüre vor Feuchtigkeit zu schützen. Hook suchte sich ein paar lange Schnüre heraus, knüpfte eine Schlinge in das Ende einer Schnur und hakte sie in die eingekerbte Hornspitze am unteren Ende des Bogens ein. Dann bog er den Bogenschaft mit aller Kraft, um die Länge der Sehne abzuschätzen, knüpfte eine Schlinge ins andere Ende, und indem er nochmals alle Kräfte aufbot, krümmte er den Bogen und ließ die neue Schlinge über die obere Bogennocke gleiten. Die Mitte der Sehne, an der die eingekerbte Hornscheibe der Pfeilnocke anliegen würde, war mit zusätzlichen Hanffasern verstärkt worden, um dem Druck standzuhalten.
«Schieß ihn ein», schlug Venables vor. Er war mittleren Alters, stand in den Diensten des Burgvogts am Tower, und er war eine freundliche Seele und verbrachte seine Tage am liebsten, indem er jedem, der ihm zuhören wollte, seine Geschichten von lange vergangenen Schlachten erzählte. Er nahm eine Pfeiltasche mit hinaus auf den Streifen Schlamm und Wiese vor den Unterkünften der Wachleute und ließ sie mit lautem Klappern zu Boden fallen. Hook befestigte den Armschutz an seinem linken Unterarm so, dass der Hornstreifen an der Innenseite des Arms lag, um die Haut vor der peitschenden Reibung der Bogensehne zu schützen. Ein Schrei erhob sich und erstarb. «Das ist Bruder Bailey», erklärte Venables.
«Bruder Bailey?»
«Bruder Bailey ist Benediktiner», sagte Venables, «und der oberste Foltermeister des Königs. Er holt wohl gerade einmal wieder die Wahrheit aus einem armen Bastard heraus.»
«In Calais wollten sie mich auch foltern», sagte Hook.
«Wahrhaftig?»
«Ein Priester wollte es.»
«Die wollen immer nur Leute aufs Streckbett spannen, was? Das habe ich nie verstanden! Sie erzählen dir, dass Gott dich liebt, und dann quälen sie dich fast zu Tode. Wenn sie dich was fragen, Junge, dann sag ihnen die Wahrheit.»
«Das habe ich auch getan.»
«Allerdings hilft das auch nicht immer», gab Venables zu. Noch ein Schrei gellte, und unwillkürlich fuhren die Köpfe in die Richtung. «Der arme Hund hat vermutlich schon längst die Wahrheit gesagt, aber Bruder Bailey geht gerne auf Nummer sicher, so ist das nämlich. Und jetzt stellen wir einmal fest, wie dieser Bogen schießt, oder?»
Hook steckte ein Dutzend Pfeile mit der Spitze vor sich in die Erde. Ein verblasstes und stark zerschossenes Tuch wurde am Ende der Wiese an einem verrottenden Heuhaufen befestigt. Die Entfernung war gering, kaum hundert Schritt, und das Ziel war zweimal so groß wie ein Mann, und Hook hätte dieses einfache Ziel immer treffen können, doch mit dem neuen Bogen würden seine ersten Pfeile sicher in die Irre gehen.
Der Bogen stand unter Spannung, aber jetzt musste Hook ihn lehren, sich zu biegen. Er zog die Sehne zunächst nicht sehr weit nach hinten, sodass der Pfeil kaum sein Ziel erreichte. Dann spannte er etwas weiter, dann noch etwas mehr. Jedes Mal brachte er die Sehne ein bisschen näher an sein Gesicht, doch noch spannte er den Bogen nicht zu seiner vollen Krümmung. Er schoss Pfeil um Pfeil ab. So lernte er die Eigenarten des Bogens kennen, und der Bogen lernte, seinem Druck nachzugeben. Es dauerte eine ganze Stunde, bis Hook die Sehne bis zu seinem Ohr zurückzog und den ersten Pfeil mit der ganzen Kraft des Bogens abschnellen ließ.
Er wusste es nicht, doch er lächelte dabei. Es lag eine Schönheit in alldem, die Schönheit von Eibenholz und Hanf, von Seide und Federn, von Stahl und Esche, von Mensch und Waffe, von schierer Kraft, von der gewaltigen Spannung des Bogens, die, freigegeben von Fingern, die der raue Hanf der Sehne aufgerieben hatte, den Pfeil zischend auf seine Bahn schickte und mit einem dumpfen Geräusch einschlagen ließ. Der letzte Pfeil traf genau in die Mitte des durchlöcherten Ziels und grub sich bis zu den Federn ins Heu. «Das hast du wohl schon mal gemacht», sagte Venables grinsend.
«Das stimmt», pflichtete ihm Hook bei, «aber es ist zu lange her. Mir tun die Finger weh!»
«Sie werden sich schnell wieder daran gewöhnen», sagte Venables, «und falls sie dich nicht foltern und umbringen, dann könntest du vielleicht zu uns kommen! Es ist kein schlechtes Leben hier im Tower. Gutes Essen, sogar viel gutes Essen, und nicht zu viele Dienste.»
«Das würde mir gefallen», sagte Hook abwesend. Seine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Bogen. Er hatte geglaubt, die wochenlange Reise hätte seine Kräfte erlahmen lassen und seine Kunstfertigkeit beeinträchtigt, doch er zog die Sehne immer noch mit Leichtigkeit zurück, ließ sie ohne Zittern los und zielte genau. In seiner Schulter und seinem Rücken spürte er ein Ziehen, und seine zwei Fingerspitzen waren aufgerieben, doch das war schon alles. Und mit einem Mal wurde ihm klar, dass er glücklich war. Dieser Gedanke ließ ihn verharren, und er starrte das Ziel an dem Heuhaufen an, während er nachdachte. Sankt Crispinian hatte ihn an einen Ort voll Sonnenschein geführt, und er hatte ihm Melisande gegeben. Doch dann wurde ihm plötzlich sein Glück sauer, als er sich daran erinnerte, dass er immer noch ein Geächteter war. Wenn Sir Martin oder Lord Slayton entdeckte, dass Nicholas Hook am Leben und in England war, dann würden sie ihr Recht fordern und ihn hängen.
«Lass uns einmal feststellen, wie schnell du bist», schlug Venables vor.
Hook stieß eine weitere Handvoll Pfeile in die Erde und dachte an die Nacht voller Rauch und Schreie, in der die Männer in ihren schimmernden Rüstungen durch die Bresche von Soissons gekommen waren. Ohne zu denken, ohne zu zielen, hatte er einfach den Bogen sein Werk tun lassen. Dieser neue Bogen war stärker, tödlicher, aber genauso schnell. Er dachte nicht nach, ließ einfach den Pfeil abfliegen, nahm den nächsten, legte ihn über den Bogenschaft, hob den Bogen, zog die Sehne zurück und ließ ihn los. Ein Dutzend Pfeile zischten über die Wiese und schlugen einer nach dem anderen ins Ziel. Wenn ein Mann seine Hand über die Markierung in der Mitte gelegt hätte, dann hätte jeder einzelne Pfeil diese Hand getroffen.
«Zwölf», sagte eine fröhliche Stimme hinter ihm, «ein Pfeil für jeden Jünger.» Hook wandte sich um und stand einem Priester gegenüber, der ihm zugesehen hatte. Der Mann hatte ein rundliches, fröhliches Gesicht, das von feinem weißem Haar umrahmt wurde. In einer Hand trug er eine große Ledertasche, und mit der anderen umfasste er Melisandes Ellbogen. «Ihr müsst Master Hook sein!», sagte der Priester. «Natürlich seid Ihr es! Ich bin Pater Ralph. Darf ich es einmal versuchen?» Er legte die Tasche auf den Boden, ließ Melisande los und streckte die Hand nach Hooks Bogen aus. «Erlaubt es mir», bat er, «ich habe oft mit dem Bogen gejagt, als ich jung war.»
Hook überließ ihm den Bogen und sah zu, wie Pater Ralph versuchte, die Sehne zu spannen. Der Priester war kräftig, doch das Wohlleben hatte ihn beleibt werden lassen, und der Bogenschaft begann unter seiner Anstrengung zu zittern, noch bevor er die Sehne eine Handbreit nach hinten gezogen hatte. Pater Ralph schüttelte den Kopf. «Ich bin nicht mehr, was ich einmal war!», sagte er. Dann gab er Hook den Bogen zurück und sah zu, wie dieser augenscheinlich ohne jede Mühe den Bogen krümmte, um die Sehne auszuhängen. «Es ist Zeit, dass wir uns einmal alle miteinander unterhalten», sagte Pater Ralph gutgelaunt. «Euch wünsche ich einen vortrefflichen Tag, Sergeant Venables. Wie geht es Euch?»
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