«Was tut ihr hier?», verlangte eine barsche Stimme zu wissen. Ein reich gekleideter Reiter, der einen Falken mit Kapuze auf dem Handgelenk trug, stand am Rand des Waldes.
Melisande kniete unterwürfig nieder und senkte den Kopf. «Ich bringe meinen Bruder nach Saint-Omer, Herr», sagte sie.
Der Reiter, der ein Herr sein mochte oder auch nicht, bemerkte Hooks Klapper und lenkte sein Pferd ein paar Schritte weiter weg. «Was wollt ihr dort?», fragte er.
«Den Segen von Sankt Audomar erbitten, Herr», antwortete Melisande. Pater Michel hatte ihnen erklärt, dass Saint-Omer nahe bei Calais lag und dass viele Menschen bei Sankt Audomars Grabstätte Heilung suchten. Er hatte ebenfalls gesagt, es sei viel sicherer zu sagen, dass sie nach Saint-Omer unterwegs seien, als zuzugeben, dass sie zu der englischen Enklave um Calais wollten.
«Gott gewähre euch eine sichere Reise», sagte der Reiter widerwillig und warf eine Münze auf die Lauberde.
«Herr?», fragte Melisande.
Der Reiter drehte sich im Sattel um. «Ja?»
«Wo sind wir, Herr? Und wie weit von Saint-Omer?»
«Einen guten Tagesmarsch», sagte der Mann und zügelte sein Pferd, «und was kümmert es dich, wie dieser Ort hier heißt? Du wirst ohnehin noch nie von ihm gehört haben.»
«Nein, Herr», sagte Melisande.
Der Mann ließ einen Herzschlag lang seinen Blick auf ihr ruhen und zuckte dann mit den Achseln. «Diese Burg», sagte er und nickte in Richtung der Zinnen, die über den Bäumen aufragten, «heißt Azincourt. Ich hoffe, dass dein Bruder geheilt wird.» Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt in das Gerstenfeld.
Es dauerte noch vier Tage, bis sie das Marschland um Calais erreicht hatten. Sie bewegten sich mit Vorsicht und hüteten sich vor den französischen Wachtrupps, die um Calais Dienst taten. Die Stadt war schon lange in englischer Hand. Es war Abend, als sie zur Brücke von Nieulay kamen, die auf den Damm Richtung Stadt führte. Wächter hielten sie auf. «Ich bin Engländer!», rief Hook, und dann trat er, Melisande an der Hand haltend, zögernd in den Fackelschein, der das Brückentor erhellte.
«Woher kommst du, Kerl?», fragte ein graubärtiger Mann mit einem gut sitzenden Helm.
«Wir kommen aus Soissons», sagte Hook.
«Ihr kommt aus...», der Mann trat einen Schritt vor, um Hook und seine Begleiterin in Augenschein zu nehmen. «Guter Gott. Los, tretet ein.»
Also trat Hook durch das kleine Tor, das in ein größeres eingepasst war, und damit waren er und Melisande in England angekommen, wo er geächtet war.
Doch Sankt Crispinian hatte Wort gehalten. Hook war heimgekommen.
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Sogar im Sommer war es im Saal der Burg von Calais frostig. Die dicken Steinmauern hielten die Wärme draußen. Deshalb knackte ein großes Feuer im Kamin, und vor der gemauerten Feuerstelle lag ein riesiger Teppich, auf dem sechs Jagdhunde schliefen und zwei gepolsterte Bänke standen. Der übrige Raum war mit großen Steinplatten ausgelegt. Schwerter waren in einem Regal an der Wand aufgereiht, Lanzen mit Eisenspitzen lagen in einem Gestell. Unter den Deckenbalken jagten sich die Sperlinge. Die Fensterläden am westlichen Ende des Saales standen offen, und Hook konnte das endlose Rauschen der See hören.
Der Befehlshaber der Garnison und seine schön gewandete Dame saßen auf einer Polsterbank. Man hatte Hook ihre Namen genannt, doch die Worte waren ihm im selben Moment entglitten, in dem er sie gehört hatte, und so wusste er nicht, wer sie waren. Sechs Bewaffnete standen hinter der Bank, und alle bedachten Hook und Melisande mit zweifelnden, feindseligen Blicken. Ein Priester stand am Rand des Teppichs und blickte auf die beiden Flüchtlinge herab, die auf den Steinplatten des Bodens knieten. «Ich verstehe nicht», sagte der Priester mit einer unangenehmen, näselnden Stimme, «warum du Lord Slaytons Dienste verlassen hast.»
«Weil ich mich geweigert habe, ein Mädchen zu töten, Pater», erklärte Hook.
«Und Lord Slayton wünschte ihren Tod?»
«Sein Priester wünschte ihn, Herr.»
«Sir Gilles Fallobys Sohn», warf der Mann auf der Polsterbank ein, und sein Ton verriet, dass er Sir Martin nicht mochte.
«Also wünschte ein Mann Gottes ihren Tod», der Priester beachtete den Unterton des Garnisonsführers nicht, «aber du wusstest es besser?» Seine Stimme klang böse und bedrohlich.
«Es war nur ein Mädchen», sagte Hook.
«Doch durch die Frauen», erwiderte der Priester giftig, «ist die Sünde in die Welt gekommen.»
Die vornehme Dame legte eine lange, bleiche Hand über den Mund, als müsse sie ein Gähnen verstecken. Auf ihrem Schoß lag ein winziges Hündchen, eine kleine weiße Fellkugel mit kampflustig blitzenden Augen, und sie streichelte seinen Kopf. «Ich langweile mich», sagte sie zu niemandem im Besonderen.
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Einer der großen Hunde wimmerte im Schlaf, und der Garnisonsführer beugte sich vor, um ihm beruhigend auf den Rücken zu klopfen. Der Mann war massig und trug einen schwarzen Bart. Mit einer ungeduldigen Geste deutete er auf Hook. «Fragt ihn nach Soissons, Pater», befahl er.
«Darauf wollte ich noch kommen, Sir William», sagte der Priester.
«Dann kommt schnell darauf», sagte die Frau kühl.
«Bist du geächtet?», fragte der Priester stattdessen, und als der Bogenschütze nicht antwortete, wiederholte er die Frage mit erhobener Stimme. Hook antwortete auch dieses Mal nicht.
«Antworte ihm», knurrte Sir William.
«Ich würde meinen, sein Schweigen ist Erklärung genug», sagte die Dame. «Fragt ihn nach Soissons.»
Der Priester zog bei ihrem Befehlston eine unwillige Miene, gehorchte aber. «Berichte uns, was in Soissons geschehen ist», verlangte er, und Hook erzählte die Geschichte noch einmal. Wie die Franzosen durch das südliche Tor in die Stadt gekommen waren, wie sie geschändet und gemordet hatten und wie die englischen Bogenschützen von Sir Roger Pallaire verraten worden waren.
«Und nur du allein bist entkommen?», fragte der Priester säuerlich.
«Sankt Crispinian hat mir geholfen», sagte Hook.
«Oho! Das hat Sankt Crispinian also für dich getan?», fragte der Priester mit hochgezogenen Augenbrauen. «Wie außerordentlich zuvorkommend von ihm.» Von einem der Bewaffneten kam ein Schnauben, als ob er sein Lachen unterdrückte, die anderen starrten einfach nur verachtungsvoll auf den knienden Bogenschützen hinunter. Die Zweifel hingen im großen Saal der Festung wie der Rauch des Holzfeuers, der dem Abzug der weiten Feuerstelle entschlüpft war. Einer der Bewaffneten hielt seinen Blick unentwegt auf Melisande gerichtet. Nun beugte er sich zu seinem Nachbarn und flüsterte ihm etwas zu, was ihn zum Lachen brachte. «Oder haben dich die Franzosen gehen lassen?», fragte der Priester scharf.
«Nein, Herr!», sagte Hook.
«Vielleicht hatten sie ja einen Grund, dich gehen zu lassen!»
«Nein!»
«Sogar ein einfacher Bogenschütze kann Männer zählen», sagte der Priester, «und wenn unser Herr König eine Armee zusammenstellt, dann wollen die Franzosen wissen, wie viele Männer darin kämpfen.»
«Nein, Herr!», wiederholte Hook.
«Also haben sie dich gehen lassen und dich mit einer Hure bestochen, was?»
«Sie ist keine Hure!», widersprach Hook, und die Bewaffneten kicherten.
Melisande hatte geschwiegen. Die hochgewachsenen Männer in den Kettenhemden, der herablassende Priester und die träge Frau, die halb auf der Polsterbank lag, hatten sie eingeschüchtert, doch nun fand Melisande ihre Sprache wieder. Auch wenn sie die Beleidigungen des Priesters nicht verstanden hatte, so hatte sie doch an seinem Tonfall erkannt, was er sagen wollte, und mit einem Mal straffte sie den Rücken und begann schnell und herausfordernd zu sprechen. Sie sprach französisch, und die Worte kamen so schnell aus ihrem Mund, dass Hook nur jedes hundertste davon verstand. Doch alle anderen im Raum verstanden sie, und alle hörten ihr zu. Sie redete voll leidenschaftlicher Entrüstung, und weder der Garnisonsführer noch der Priester unterbrachen sie. Hook wusste, dass sie vom Fall Soissons' erzählte, und nach einer Weile traten ihr Tränen in die Augen und rollten über ihre Wangen, und ihre Stimme wurde laut, als sie dem Priester ihre Geschichte entgegenschleuderte. Dann fehlten ihr die Worte zum Weitersprechen, sie deutete auf Hook, senkte den Kopf und begann zu schluchzen.
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