Den ersten Tag blieben sie in dem Wald. Von Zeit zu Zeit tauchten Reiter in dem Tal unter den Buchen auf. Sie gehörten zu den Siegern von Soissons, aber sie waren nicht in Kampfkleidung. Einige jagten, andere schienen nur zum Vergnügen zu reiten, und keiner von ihnen hielt die wenigen Flüchtlinge, die es offenkundig aus Soissons heraus geschafft hatten, auf ihrem Weg Richtung Süden auf. Dennoch wollte Hook es nicht auf eine Begegnimg mit den Franzosen ankommen lassen, und so versteckten sie sich bis zum Dunkelwerden im Wald. Er hatte beschlossen, in Richtung
Westen zu gehen, in Richtung England, auch wenn es für einen Geächteten in England ebenso gefährlich war wie in Frankreich. Doch wohin hätte er sich sonst wenden sollen? Sie wanderten bei Nacht unter dem Licht des Mondes. Ihre Nahrung stahlen sie, gewöhnlich war es ein Lamm, das Hook in der Dunkelheit aus der Herde holte. Er fürchtete die Hirtenhunde, aber vielleicht beschützte ihn Sankt Crispin mit seinem Hirtenstab, denn die Hunde schlugen niemals an, wenn Hook einem Tier die Kehle durchschnitt. Er trug den kleinen Körper zurück in den dichten Wald, wo er ein Feuer entzündete, um das Fleisch zu garen.
«Du kannst auch allein gehen», erklärte er Melisande eines Morgens.
«Gehen?», fragte sie stirnrunzelnd. Sie hatte ihn nicht verstanden.
«Wenn du willst. Du kannst gehen!» Er machte eine Geste Richtung Süden und erntete einen finsteren Blick und einen Wortschwall in unverständlichem Französisch. Er nahm an, das sollte bedeuten, dass Melisande bei ihm bleiben wollte. Sie blieb, und ihre Gegenwart war ihm ebenso Trost wie Sorge. Hook war nicht sicher, ob er aus Frankreich herauskommen würde, und wenn es ihm gelang, so war seine Zukunft unsicher. Er betete zu Sankt Crispinian in der Hoffnung, der Märtyrer würde ihm helfen, wenn er erst einmal in England wäre, falls er England erreichte, doch Sankt Crispinian hüllte sich in Schweigen.
Aber er schickte Hook und Melisande einen Priester. Es war der Cure einer Gemeinde am Fluss Oise, und er fand die beiden Flüchtlinge schlafend unter einer umgestürzten Weide in einem dichten Erlengehölz. Er nahm sie mit zu sich nach Hause, wo ihnen seine Frau zu essen gab. Pater Michel war ein verbitterter Griesgram, doch er hatte Mitleid mit ihnen. Er sprach ein bisschen Englisch, das er während seiner Zeit als Kaplan eines französischen Grafen erlernt hatte, der in seinem Herrenhaus einen Engländer gefangen hielt. Seine Erfahrungen in dieser Stellung hatten Pater Michel einen Hass auf alle Obrigkeit eingepflanzt, mochte es nun der König, ein Bischof oder ein Graf sein, und dieser Hass brachte ihn dazu, einem englischen Bogenschützen zu helfen. «Du gehst nach Calais», erklärte er Hook.
«Ich bin ein Geächteter, Pater.»
«Geächtet?» Schließlich verstand der Priester, doch er tat Hooks Bedenken ab. «Proscrit , was? Aber England ist deine Heimat. Ein weites Land, oder? Du gehst nach Hause und hältst dich vom Ort deiner Sünden fern. Was war nochmal deine Sünde?»
«Ich habe einen Priester geschlagen.»
Pater Michel lachte und klopfte Hook auf den Rücken. «Gut gemacht! Ich hoffe, es war ein Bischof.»
«Nur ein Priester.»
«Nächstes Mal schlägst du einen Bischof, ja?»
Hook zahlte für seinen Aufenthalt. Er hackte Feuerholz, räumte Gräben aus und deckte mit Pater Michel einen Kuhstall mit frischem Stroh, während Melisande im Haus beim Kochen, Waschen und Flicken half. «Die Leute aus dem Dorf werden dich nicht verraten, Hook», versicherte der Priester.
«Warum nicht, Pater?»
«Weil sie mich fürchten. Ich kann sie in die Hölle fahren lassen», sagte der Priester grimmig. Er mochte die Gespräche mit Hook, denn so konnte er sein Englisch üben, und eines Tages, als Hook einen Birnbaum hinter dem Haus beschnitt, hörte er aufmerksam zu, als Hook zögernd erzählte, dass er Stimmen höre. Pater Michel bekreuzigte sich. «Es könnte auch die Stimme des Teufels sein, oder?», sagte er.
«Das beunruhigt mich», gab Hook zu.
«Aber ich glaube es nicht», sagte Pater Michel freundlich. «Du schneidest zu viel von diesem Baum weg!»
«Dieser Baum ist in einem grauenvollen Zustand, Pater. Ihr hättet ihn schon letzten Winter beschneiden sollen, aber auch so wird es ihm nicht schaden. Wenn Ihr Birnen haben wollt, könnt Ihr ihn nicht wild wachsen lasen. Vertraut mir. Schneiden und schneiden! Und wenn Ihr denkt, Ihr habt zu viel abgeschnitten, dann schneidet Ihr die gleiche Menge Äste noch einmal!»
«Schneiden und schneiden, was? Wenn ich nächstes Jahr keine Birnen habe, weiß ich, dass du vom Teufel geschickt worden bist.»
«Es ist Sankt Crispinian, der zu mir spricht», sagte Hook, während er einen weiteren Ast stutzte.
«Aber nur, wenn Gott es ihm gestattet», sagte der Priester und bekreuzigte sich erneut, «und das bedeutet, dass Gott zu dir spricht. Ich bin froh, dass kein Heiliger mit mir redet.»
«Darüber seid Ihr froh?»
«Was ist denn mit denjenigen, die Stimmen hören? Entweder sind es selber Heilige, oder sie landen auf dem Scheiterhaufen.»
«Ich bin kein Heiliger», sagte Hook.
«Aber Gott hat dich auserwählt. Er trifft manchmal eine sehr merkwürdige Wahl.» Der Geistliche lachte.
Pere Michel unterhielt sich auch mit Melisande, und so erfuhr Hook mehr über das Mädchen. Melisandes Vater war ein Lord, sagte der Priester, ein Gutsherr, der Seigneur d'Enfer hieß, und ihre Mutter war eine Dienstmagd gewesen. «Also ist deine Melisande auch so ein Bastard von einem Adligen», sagte Pater Michel, «geboren, um ein Leben voller Kummer zu leben.» Ihr adeliger Vater hatte dafür gesorgt, dass Melisande als Novizin in das Nonnenkloster von Soissons kam, um für die Nonnen als Küchenmädchen zu arbeiten. «So verbergen die Lords ihre Sünden», erklärte Pater Michel bitter, «indem sie ihre Bastarde ins Gefängnis stecken.»
«Gefängnis?»
«Sie wollte keine Nonne werden. Kennst du ihren Namen?»
«Melisande.»
«Melisande war eine Königin von Jerusalem», sagte Père Michel lächelnd. «Und diese Melisande liebt dich.» Hook erwiderte nichts.
«Beschütze sie», befahl ihm Père Michel an dem Tag, an dem sie weiterzogen, mit strenger Stimme.
Sie hatten sich verkleidet. Es war schwierig, Hooks Statur zu verbergen, doch Pater Michel gab ihm ein weißes Büßerhemd und eine Aussätzigenklapper, die aus einem hölzernen Handstück bestand, an dem mit Lederbändern zwei kleinere Holzstücke befestigt waren. Melisande, ebenfalls im Büßergewand und das schwarze Haar zottelig und kurz geschnitten, führte ihn nach Nordwesten. Sie waren auf Pilgerschaft, so schien es, und suchten nach Heilung für Hooks Leiden. Sie lebten von den Almosen, die ihnen die Leute zuwarfen. Sie vermieden es, in Hooks Nähe zu kommen, denn er machte seine ansteckende Krankheit durch lautes Klappern kenntlich. Sie bewegten sich mit großer Vorsicht, umgingen größere Siedlungen und schlugen einen weiten Bogen, als sie an den Rauchsäulen der Kochfeuer erkannten, dass sie die Stadt Amiens vor sich hatten. Sie schliefen in den Wäldern, in Kuhställen oder in Heuschobern, und der Regen durchnässte sie, und die Sonne trocknete sie, und eines Tages wurden sie am Ufer des Flusses Canche zum Liebespaar. Danach war Melisande sehr schweigsam, doch sie schmiegte sich an Hook, und er schickte ein Dankgebet zu Sankt Crispinian, der jedoch nicht darauf reagierte.
Am nächsten Tag gingen sie weiter nach Norden. Sie folgten einem Weg, der über ein weites Feld zwischen zwei
Wäldern führte. Im Westen stand halb verborgen hinter Bäumen eine kleine Burg. Sie rasteten am östlichen Rand des Feldes bei der verwitterten Hütte eines Forstmanns, die unter einem dick bemoosten Strohdach fast einzubrechen schien. Gerste wuchs auf dem Feld, die Ähren bogen sich wie Wellen in der Brise, Lerchen tummelten sich über ihnen, und auch ihr an- und abschwellender Gesang erinnerte an Wellen, und Hook und Melisande waren in der Wärme des Spätsommertages halb eingeschlafen.
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