Hook und das Mädchen hörten zu. Noch etwa dreißig oder vierzig Bogenschützen waren am Leben, und zuerst hackten ihnen die Franzosen zwei Finger von der rechten Hand, damit sie nie mehr eine Bogensehne würden spannen können. Ein dicker, übers ganze Gesicht grinsende Franzose schlug die Finger mit Hammer und Meißel ab. Einige der Bogenschützen ertrugen den Schmerz schweigend, während sich andere wild wehrten und zu dem Fass gezerrt werden mussten, auf dem ihnen die Finger auseinandergespreizt wurden. Hook glaubte, die Vergeltung habe damit ein Ende, doch sie hatte erst begonnen. Die Franzosen wollten mehr als Finger. Sie wollten Qual und Tod.
Ein großer Mann sah vom Sattel seines Pferdes aus dem Sterben der Bogenschützen zu. Sein langes schwarzes Haar fiel bis über die Platten seiner Schulterrüstung, und Hook, der wahre Adleraugen hatte, sah deutlich die wohlgeformten Züge des sonnenverbrannten Gesichts. Der Mann besaß eine scharfgeschnittene Nase, einen breiten Mund, und auf seinem hervortretenden Kinn lag der Schatten von Bartstoppeln. Über seiner Rüstung trug er einen hellen Wappenrock, der eine goldene Sonne zeigte, von der züngelnde Strahlen ausgingen, und über der Sonne thronte ein Adlerkopf. Die junge Frau sah den Mann nicht. Sie hatte ihr Gesicht in Hooks Arme vergraben. Sie hörte die Schreie, doch sie wollte nicht hinsehen. Sie wimmerte jedes Mal, wenn ein Mann unter den Folterungen aufschrie, mit denen sich die Franzosen rächten.
Hook beobachtete genau, was geschah. Er vermutete, dass der Mann mit dem Adler und der Sonne die Qualen und das Töten hätte beenden können, doch er tat nichts. Er saß in seinem Sattel und sah unbewegt zu, wie die Franzosen den überlebenden Bogenschützen sämtliche Kleider auszogen und ihnen dann mit den Spitzen ihrer langen Messer die Augen ausstachen. Die französischen Feldkämpfer verhöhnten ihre blinden Opfer und kratzten mit scharfen Klingen in ihren Augenhöhlen herum. Ein Franzose tat so, als äße er einen Augapfel, und die anderen lachten wild. Der langhaarige Mann lachte nicht, er schaute nur zu, und in seiner Miene regte sich nichts, als die blinden Männer auf die Pflastersteine hinabgezwungen wurden, wo man sie kastrierte. Ihre Schreie hallten durch die Stadt, die von vielen anderen Schreien widerhallte. Erst als der letzte blinde Engländer kastriert worden war, verließ der gutaussehende Mann auf dem Kriegshengst den Platz. Die Bogenschützen wurden liegengelassen, um unter dem Sommerhimmel zu verbluten. Der Tod ließ sich viel Zeit. Hook zitterte, obwohl es warm war. Sankt Crispinian schwieg. Eine nackte Frau, der die Brüste abgeschnitten worden waren, brach mit blutüberströmtem Körper zwischen den sterbenden Bogenschützen zusammen und schluchzte, bis ihr Geheul einem Franzosen zu viel wurde und er ihr beiläufig eine Kampfaxt in den Schädel hieb. Hunde schnupperten an den Sterbenden.
Die Plünderung der Stadt ging den ganzen Tag weiter. Die Kathedrale, die Gemeindekirchen, das Nonnenkloster und die Priorate wurden ausgeraubt. Frauen und Kinder wurden geschändet und wieder geschändet, die Männer wurden ermordet, und Gott wandte Seine Augen von Soissons ab. Seigneur de Bournonville wurde hingerichtet, und er hatte Glück, denn er starb, ohne zuvor gefoltert worden zu sein. Die Festung, die als Zuflucht gegolten hatte, war kampflos gefallen, denn die Franzosen, die durch die Heimtücke Sir
Rogers in die Stadt gekommen waren, hatten ihr Tor weit geöffnet und ihr Fallgatter aufgezogen vorgefunden. Die Burgunder starben, und nur Sir Rogers Männern, die an dem Verrat ihres toten Anführers beteiligt gewesen waren, war das Leben gelassen worden. Die Bürger hatten die burgundische Besatzung gehasst und waren dem König von Frankreich treu ergeben geblieben, doch jetzt, in einem Rausch von Blut, Gewalt und Raub, vergalten ihnen die Franzosen diese Treue mit einem Gemetzel.
«Je suis Melisande» , sagte das Mädchen immer wieder, und zuerst verstand Hook nicht, was die junge Frau meinte. Endlich wurde ihm klar, dass sie ihren Namen sagte.
«Melisande?», fragte er.
«Oui.»
«Nicholas.»
«Nicholas», wiederholte sie.
«Einfach Nick», sagte er.
«Eifanick?»
«Nick.»
«Nick.» Sie flüsterten, sie warteten, sie hörten dem Schreien einer Stadt zu, und sie rochen ein Gemisch aus Ale und Blut.
«Ich weiß nicht, wie wir von hier wegkommen sollen», sagte Hook zu Melisande, die ihn nicht verstand. Sie nickte dennoch, und dann schlief sie unter dem Stroh mit dem Kopf auf seiner Schulter ein, und Hook schloss die Augen und betete zu Crispinian. Hilf mir, heimzukommen. Nur dass ein Geächteter kein Zuhause hat, dachte er verzweifelt.
«Du wirst heimkommen», sagte Sankt Crispinian.
Hook erstarrte. Hatte er sich die Stimme nur vorgestellt? Sie hatte echt gewirkt, so echt wie die Schreie, mit denen die Bogenschützen gestorben waren. Dann fragte er sich, wie er aus der Stadt entkommen sollte, denn die Franzosen hatten gewiss an allen Toren Wachen aufgestellt.
«Geh durch die Bresche», schlug Sankt Crispinian liebenswürdig vor.
«Wir gehen durch die Bresche», sagte Hook zu Melisande, doch sie schlief weiter.
Als es Abend wurde, sah Hook Schweine, die anscheinend aus ihren Ställen hinter den Häusern gelassen worden waren, an den Leichen der Bogenschützen fressen wie an einer Festtafel. In Soissons war es inzwischen ruhiger geworden, offenbar hatten sich die Sieger fürs Erste ausreichend an Leibern, Ale und Wein gütlich getan. Der Mond ging auf, doch Gott schickte Wolken, die das silbrige Licht zunächst dämpften und dann ganz verschwinden ließen, und in dieser Dunkelheit tasteten sich Hook und Melisande nach unten auf die stinkende Straße. Es war Mitternacht, und aus den aufgebrochenen Häusern drang das Schnarchen von Männern. An der Bresche stand keine Wache. Melisande, in Sir Rogers blutigen Wappenrock gehüllt, hielt Hooks Hand krampfhaft fest, während sie über die zerschossenen Trümmer der Stadtmauer kletterten. Als sie die Senke durchquerten, in der die üblen Gerüche aus den Gerbergruben aufstiegen, und als sie den Hügel hinauf an dem aufgegebenen Feldlager der Sieger vorbei in den höher gelegenen Wald liefen, in dem es nicht nach Blut stank und in dem keine Leichen verrotteten - Melisande hielt sich an Hook fest.
Soissons war tot.
Hook und Melisande aber lebten.
***
«Die Heiligen sprechen zu mir», erklärte er ihr in der Morgendämmerung. «Jedenfalls tut es Crispinian. Der andere Geselle ist verdrießlicher. Er spricht zwar auch manchmal, aber viel sagt er nicht.»
«Crispinian», wiederholte Melisande und wirkte sehr erfreut darüber, dass sie wenigstens eines seiner Worte verstanden hatte.
«Er scheint sehr gutherzig zu sein», sagte Hook, «und er beschützt mich. Und jetzt beschützt er dich auch, nehme ich an!» Er lächelte sie an, von plötzlicher Zuversicht erfüllt. «Wir müssen dir etwas Ordentliches zum Anziehen besorgen, Mädchen. Du siehst sehr sonderbar aus in diesem Wappenrock.»
Wenn Melisande auch sonderbar aussehen mochte, sie war dennoch bezaubernd. Hook war das nicht aufgefallen, bis die Morgendämmerung im Wald ungezählte Speere aus grüngoldenem Licht zwischen dem Blattwerk und den Ästen hindurch auf ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen warf, das von nachtschwarzem Haar eingerahmt wurde. Sie hatte graue Augen, so hell wie Mondenschein, eine lange Nase und einen eigensinnigen Zug ums Kinn, der, wie Hook noch erfahren sollte, durchaus ihren Charakter widerspiegelte. Sie war bemitleidenswert mager, hatte aber viel Kraft in ihrem sehnigen Körper und verachtete jede Schwäche. Ihr Mund war breit geschnitten, ausdrucksvoll und äußerst gesprächig. Mit der Zeit verstand Hook, dass sie als Novizin in einem Nonnenkloster gelebt hatte, in dem das Reden verboten war, und in den ersten Tagen schien Melisande die Monate erzwungenen Schweigens ausgleichen zu müssen. Er verstand kaum etwas, und dennoch lauschte er ihrem Geplauder verzückt.
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