Stille machte sich breit. Ein Sergeant in einem Kettenhemd öffnete geräuschvoll die Tür des Saales, sah, dass der Raum nicht leer war, und warf die Tür genauso geräuschvoll wieder zu. Sir William sah Hook an. «Du hast Sir Roger Pallaire ermordet?», fragte er mit rauer Stimme.
«Ich habe ihn getötet, Herr.»
«Eine gute Tat von einem Geächteten», sagte Sir Williams Frau nachdrücklich, «wenn es stimmt, was das Mädchen sagt.»
«Wenn», sagte der Priester.
«Ich glaube ihr», sagte die Frau. Dann erhob sie sich, legte den kleinen Hund in ihre Armbeuge und ging zum Rand des Teppichs, wo sie sich niederbeugte und Melisande am Ellbogen emporzog. Sanft sagte sie etwas auf Französisch zu ihr, dann führte sie Melisande zum Ende des Saales, schob einen Vorhang beiseite und verschwand mit ihr.
Sir William wartete, bis seine Frau den Saal verlassen hatte. Dann stand er auf. «Ich glaube, er sagt die Wahrheit, Pater», verkündete er nachdrücklich.
«Das könnte sein», gab der Priester zu.
«Ich glaube, es ist so», beharrte Sir William.
«Sollen wir ihn prüfen?», schlug der Priester mit kaum verhohlenem Eifer vor.
«Ihr wollt ihn foltern?», fragte Sir William entsetzt.
«Die Wahrheit ist geheiligt, Mylord», sagte der Priester mit einer leichten Verneigung. «Et cognoscetis veritatem» , deklamierte er, «et veritas liberdbit vos!» Er bekreuzigte sich. «Ihr werdet die Wahrheit erfahren, Mylord», übersetzte er, «und die Wahrheit wird Euch befreien.»
«Ich bin frei», knurrte der Mann mit dem schwarzen Bart, «und es ist nicht unser Geschäft, die Wahrheit mit der Streckbank aus einem armen Bogenschützen herauszuholen. So etwas sollten wir anderen überlassen.»
«Gewiss, Mylord», sagte der Priester, der seine Enttäuschung kaum verbergen konnte.
«Dann wisst Ihr, wohin er jetzt gehört.»
«Gewiss, Mylord.»
«Also sorgt dafür, dass er dort hinkommt», sagte Sir William, bevor er zu Hook hinüberging und ihn mit einer Geste zum Aufstehen aufforderte. «Hast du einen von ihnen getötet?», wollte er wissen.
«Viele, Mylord», sagte Hook und dachte an die Pfeile, die in die spärlich erhellte Bresche geflogen waren.
«Gut», sagte Sir William unbewegt, «aber du hast auch Sir Roger Pallaire getötet. Das macht dich entweder zum Helden oder zum Mörder.»
«Ich bin nur ein Bogenschütze», sagte Hook eigensinnig.
«Und zwar ein Bogenschütze, dessen Geschichte auf der anderen Seite des Wassers gehört werden muss», sagte Sir William und gab Hook eine Silbermünze. «Uns ist schon viel über Soissons erzählt worden», fuhr er grimmig fort, «aber du bist der Erste, der uns diese Geschichten bestätigt.»
«Wenn er dort war», warf der Priester höhnisch ein.
«Ihr habt das Mädchen gehört», schnauzte Sir William den Priester an, der den Kopf zurückwarf. Sir William wandte sich wieder an Hook. «Erzähle deine Geschichte in England.»
«Ich bin geächtet», sagte Hook unsicher.
«Du wirst tun, was man dir zu tun befiehlt», erwiderte Sir William schroff, «und du gehst nach England.»
Und so wurden Hook und Melisande an Bord eines Schiffes gebracht, das nach England segelte. Dann setzten sie ihren Weg mit einem Boten fort, der Nachrichten nach London zu bringen hatte und Geld für das Ale, das Essen und die Reise besaß. Melisande trug nun geziemende Kleidung, die sie von Lady Bardolf, Sir Williams Frau, bekommen hatte, und sie ritt auf einer kleinen Stute, die der Bote aus den Stallungen der Festung von Dover geholt hatte. Sie hatte sich wund geritten, bis sie in London ankamen, wo sie, nachdem sie die Brücke überquert hatten, ihre Pferde den Stallknechten des Towers übergaben. «Ihr wartet hier», befahl ihnen der Bote. Also suchte sich Hook zusammen mit Melisande in der Ecke des Kuhstalls einen Platz zum Schlafen. Kein Mensch in der riesigen Festung schien zu wissen, warum sie hierher befohlen worden waren.
«Ihr seid keine Gefangenen», erklärte ihnen ein Sergeant der Bogenschützen.
«Aber wir dürfen nicht raus», sagte Hook.
«Nein, ihr dürft nicht raus», räumte der Ventenar ein, «aber Gefangene seid ihr auch nicht.» Er grinste. «Wenn ihr Gefangene wärt, mein Freund, dann würdest du nicht jede Nacht mit der Kleinen hier liegen. Wo ist dein Bogen?»
«In Frankreich verloren.»
«Dann suchen wir dir einen neuen», sagte der Ventenar. Er hieß Venables und hatte für den alten König bei Shrewsbury gekämpft. Dort hatte ihn ein Pfeil ins Bein getroffen, und seitdem hinkte er. Er führte Hook in ein unterirdisches Gewölbe der weitläufigen Festungsanlage, in dem Hunderte neuer Bögen in langen Holzgestellen aufbewahrt wurden. «Such dir einen aus», sagte Venables.
Es war düster in dem Gewölbe, in dem ein Bogenschaft, jeder länger als ein erwachsener Mann, dicht neben dem nächsten stand. Sie waren nicht bespannt, aber mit eingekerbten Hornspitzen versehen, sodass die Sehnen nur noch eingehängt werden mussten. Hook nahm einen Schaft nach dem anderen heraus und fuhr mit der Hand über ihre kräftige Mitte. Die Bögen waren gut gemacht. Manche waren knorrig, wenn der Bogner lieber einen Astknoten hatte stehenlassen, als das Holz zu schwächen, und die meisten fühlten sich leicht fettig an, weil sie mit einer Mischung aus Wachs und Talg bestrichen worden waren. Ein paar der Bögen waren nicht eingestrichen, denn ihr Holz musste noch vollständig austrocknen, aber diese Bögen waren auch noch nicht zur Bespannung fertig gemacht, und Hook würdigte sie keines weiteren Blickes. «Die meisten wurden in Kent gemacht», sagte Venables, «aber ein paar kommen auch aus London. Sie bringen in diesem Teil der Welt keine guten Bogenschützen zustande, mein Junge, aber Bögen schon.»
«Das tun sie», nickte Hook. Er hatte einen der längsten Bogenschäfte aus dem Gestell gezogen. Das Holz verbreiterte sich zur verdickten Mitte hin, die er mit seiner linken Hand umfasste, während er die Beweglichkeit der oberen Hälfte prüfte. Dann brachte er den Bogen zu einem rostigen Gitter, durch das ein paar Sonnenstrahlen fielen.
Der Bogen war vollendet. Die Eibe war in einem südlichen Land geschlagen worden, wo die Sonne heller schien, und dieser Bogen war aus dem Stammholz des Baumes gefertigt. Er war feinporig und hatte keine Astansätze. Hook ließ seine Hand über das Holz gleiten, fühlte seine Verdickung und spürte die winzigen Grate, die das Werkzeug des Bogners hinterlassen hatte, das Abziehmesser, mit dem die Waffe geformt wurde. Der Schaft war neu, denn das Splintholz, das den Rücken des Bogenschaftes bildete, war noch fast weiß. Mit der Zeit, so wusste Hook, würde es die Farbe von Honig annehmen, doch jetzt hatte der Rücken des Bogens, der von ihm abgewandt war, wenn er die Sehne spannte, den gleichen Farbton wie Melisandes Brüste. Der Bauch des Bogens bestand aus dem Kernholz des Stammes und war tiefbraun, so braun wie Melisandes Gesicht, sodass der Bogen aus zwei verschiedenen Holzstreifen gemacht zu sein schien, aus einem nahezu weißen und einem braunen, die eine perfekte Verbindung eingegangen waren. Doch in Wahrheit bestand der Bogenschaft aus einem einzigen Stück wundervoll geglätteten Holzes, das an der Stelle aus dem Stamm geschnitten worden war, an der das Splintholz ins Kernholz überging.
Gott hat den Bogen geschaffen, hatte einmal ein Priester in Hooks Dorfkirche gesagt, genau wie er auch Mann und Frau geschaffen hat. Der durchreisende Priester hatte damit gemeint, dass Gott Kernholz und Splintholz miteinander verheiratet hatte, und es war diese Verbindung, die den großen Kriegsbogen zu einer so tödlichen Waffe werden ließ. Das dunkle Kernholz des Bogenbauchs war steif und unnachgiebig. Es wehrte sich gegen den Versuch, es zu biegen, während sich das helle Splintholz des Bogenrückens leicht in eine Wölbung krümmen ließ, doch genau wie das Kernholz wollte es sich wieder gerade richten, und es besaß eine so große Schnellkraft, dass der Bogen, sobald der Druck abnahm, wieder seine normale Form annahm. So entstand durch den biegsamen Rücken des Bogens Zug und durch den steifen Bogenbauch Druck, und dadurch konnte der Pfeil fliegen.
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