Dafür brauchte er etwa eine Stunde. Er zog nicht nur das Stroh herunter, sondern löste auch ein paar der Dachsparren, die an den Firstbalken genagelt waren. Als er fertig war, fand er, dass es aussah, als sei das Dach eingestürzt. Zusammen mit dem Mädchen kroch er unter das Stroh und kauerte sich darin zusammen. Er hatte ihnen ein Versteck gebaut.
Nun konnte er nur noch warten. Manchmal sagte das Mädchen etwas, doch Hook hatte während seiner Zeit in Soissons nur wenig Französisch gelernt und verstand die Worte kaum. Nach einer Weile lehnte sich die junge Frau an ihn und schlief ein, wenn auch ihr Schlaf manchmal von einem Wimmern unterbrochen wurde, worauf Hook unbeholfen versuchte, sie zu beruhigen. Sie trug Sir Rogers Wappenrock, der immer noch feucht von Blut war. Hook schnürte den Beutel auf und fand Münzen, goldene und silberne, vermutlich der Lohn des Verrats.
Grau kam die Morgendämmerung. Sir Rogers ausgeweideter Körper wurde erst vor Sonnenaufgang entdeckt. Schreiend und zeternd hörte Hook Männer die Häuserreihe unter ihm durchsuchen, doch sein Versteck war gut, und niemand dachte daran, in dem Haufen aus Stroh und Holz herumzustöbern. Das Mädchen wachte auf, und Hook legte ihm einen Finger auf die Lippen. Zitternd schmiegte es sich an ihn. Hook hatte immer noch Angst, doch diese Angst hatte sich mit Ergebung vermischt, und irgendwie hatte ihm die Anwesenheit des Mädchens auch Hoffnung gegeben, die er in der Nacht zuvor nicht gehabt hatte. Aber vielleicht, so dachte er, beschützten ihn auch die Zwillingsheiligen von Soissons. Er bekreuzigte sich und sandte ein Dankgebet an Crispin und Crispinian. Sie schwiegen jetzt, doch er hatte getan, was sie ihm befohlen hatten. Hook überlegte, ob es Crispinian gewesen war, der in London zu ihm gesprochen hatte. Das war nicht sehr wahrscheinlich, aber wer sollte es sonst gewesen sein? Gott? Doch dann schien ihm diese Frage plötzlich nicht mehr so wichtig, denn es wurde ihm bewusst, dass er in Soissons getan hatte, was ihm in London nicht gelungen war. Hoffnung flackerte in ihm auf, die Hoffnung auf Erlösung und das Überleben. Es war nur eine schwache Hoffnung, so kraftlos wie eine Kerzenflamme im Wind, aber sie war da.
Vor dem Morgengrauen war es in der Stadt leiser geworden, doch als die Sonne über der Kathedrale aufging, hob der Lärm wieder an. Schreie waren zu hören und Stöhnen und Rufe. Durch die Lücke, die er in das Strohdach gerissen hatte, konnte Hook auf den kleinen Platz vor der Kirche
Saint-Antoine-Le-Petit hinuntersehen. Die beiden Mädchen, die man über die Fässer gebunden hatte, waren verschwunden, die Armbrustschützen jedoch und die anderen Bewaffneten waren noch da. Ein gestromter Hund schnupperte an der Leiche einer Nonne, um deren Kopf sich eine Blutlache ausgebreitet hatte. Ihre Tracht war ihr über die Hüfte hochgezerrt worden. Ein Krieger ritt über den Platz. Vor seinem Sattel lag ein nacktes Mädchen quer über dem Pferd, dem er mit beiden Händen auf den Hintern schlug, als spiele er eine Trommel. Ein paar Männer sahen zu ihm herüber und lachten.
Hook wartete ab. Er musste sich unbedingt erleichtern, doch er wagte es nicht, sein Versteck zu verlassen. Also pinkelte er sich in die Kniehose, und die junge Frau roch es und zog eine Grimasse. Doch einen Moment später musste sie selbst. Sie begann leise zu weinen, und Hook nahm sie in die Arme, bis ihre Tränen versiegt waren. Sie murmelte ihm etwas zu, und er murmelte ihr etwas zu, und keiner von ihnen verstand die Worte des anderen, aber sie fühlten sich dennoch getröstet.
Dann wurde Hufschlag laut, und Hook fuhr herum, um durch eine Lücke im Stroh zu spähen. Unten auf dem Platz waren mindestens zwanzig Reiter vor der Kirche angekommen. Ein Mann hielt ein Banner mit goldenen Lilien auf einem blauen Feld, das von einem roten Rand mit weißen Tupfen eingefasst war. Die Reiter trugen Rüstungen, wenn auch keine Helme, und ihnen folgten, ebenfalls in Rüstungen, weitere Feldkämpfer zu Fuß.
Einer der neu eingetroffenen Reiter war mit einem Wappenrock angetan, der drei Habichte auf einem grünen Feld zeigte, und so wusste Hook, dass er ein Engländer sein musste, der in Sir Rogers Diensten gestanden hatte. Dieser Mann gab seinem Pferd die Sporen, ritt bis dicht vor die Kirche, beugte sich aus dem Sattel und pochte mit einer kurzen Lanze an die
Tür. Dazu rief er etwas, doch Hook war zu weit entfernt, um es zu verstehen. Es mussten jedoch beruhigende Worte gewesen sein, denn kurz darauf wurde die Kirchentür etwas aufgezogen, und Sergeant Smithson spähte heraus.
Die beiden Männer sprachen miteinander. Dann kehrte Smithson in die Kirche zurück, und lange Zeit geschah nichts weiter. Hook beobachtete den Platz und fragte sich, was hier vorging. Dann schwang die Kirchentür erneut auf, und die englischen Bogenschützen traten einer nach dem anderen argwöhnisch in die Sonne. Offenbar hatte Sir Roger sein Wort gehalten, und Hook, der von dem verwüsteten Dachgiebel aus zusah, überlegte, ob er es bis zu den Bogenschützen schaffen könnte, die sich jetzt vor dem Pferd des Engländers versammelten. Nur John Wilkinson hielt sich nahe an der Kirche so weit wie möglich im Hintergrund. Sir Roger musste erreicht haben, dass die Bogenschützen verschont blieben, denn die Franzosen schienen sie willkommen zu heißen. Smithsons Männer stapelten ihre Bögen, Pfeiltaschen und Schwerter bei der Kirchentür auf und knieten sich dann einer nach dem anderen vor einen Reiter, dessen Hengst auffällig mit einem Überwurf aus dem blauen Tuch mit den goldenen Lilien herausgeputzt war. Der Reiter trug eine schmale goldene Krone und eine strahlend polierte Rüstung, und er hob die Hand in einer Geste, die wie ein wohlmeinender Segen wirkte.
Wenn ich es bis auf die Straße schaffe, dachte Hook, dann könnte ich laufen und mich meinen Leuten anschließen. «Nein», flüsterte Sankt Crispinian in Hooks Kopf. Hook fuhr zusammen. Das Mädchen klammerte sich an ihn.
«Nein?», flüsterte Hook vernehmlich.
«Nein», wiederholte Sankt Crispinian nachdrücklich.
Das Mädchen fragte etwas, und Hook beruhigte sie. «Ich habe nicht mit dir gesprochen, Kleine», flüsterte er.
Der blaugoldene Reiter hielt ein paar Augenblicke lang seine Faust im Kettenhandschuh in die Höhe gereckt. Dann ließ er seine Hand fallen.
Und das Massaker begann.
Die Reiter sprangen von den Pferden, zogen ihre Schwerter und griffen die knienden Bogenschützen an. Die ersten starben schnell, denn sie waren vollkommen überrascht. Den anderen blieb genügend Zeit, um ihr kurzes Messer zu ziehen und sich zu wehren. Aber die Franzosen trugen schwere Rüstungen und hatten die längeren Klingen und drangen von allen Seiten auf die Bogenschützen ein. Sir Rogers Männer sahen ungerührt zu. John Wilkinson griff sich ein Schwert von dem Haufen neben der Kirchentür, doch ein Feldkämpfer rammte ihm einen Kurzspeer in den Körper, und ein zweiter Franzose hieb ihm mit dem Schwert die Kehle durch, sodass Wilkinsons Blut bis hinauf an den steinernen Torbogen der Kirche spritzte, in den Engel und Fische eingemeißelt waren. Manche der Bogenschützen wurden lebend festgehalten, niedergeknüppelt und von grinsenden Bewaffneten in Schach gehalten.
Der Mann mit der goldenen Krone ließ sein Pferd umdrehen und ritt davon, gefolgt von seinem Standartenträger, seinem Junker, seinem Knappen und seinem berittenen Gefolge. Der Engländer mit dem Wappen der drei Habichte ritt mit ihnen. Er wandte sich nicht nach den überlebenden Bogenschützen um, die laut um Gnade flehten. Es gab keine Gnade.
Die Franzosen hatten ein gutes Gedächtnis für ihre Niederlagen, und sie hassten die Männer, die mit dem Langbogen in den Krieg zogen. Bei Crecy waren die Franzosen in der Überzahl gewesen und hatten die Engländer eingekesselt. Die Franzosen waren in das flache Tal vorgestoßen, um die Welt von den schamlosen Eindringlingen zu befreien, doch es waren die Bogenschützen gewesen, die sie dennoch geschlagen hatten, indem sie den weißbefiederten Tod durch die Lüfte geschickt und mit ihren langspitzigen Pfeilen die edlen französischen Ritter niedergemacht hatten. Dann, bei Poitiers, hatten die Bogenschützen das französische Reiterheer auseinandergerissen, und am Abend dieses Tages war der König von Frankreich ein Kriegsgefangener gewesen. All diese Kränkungen nagten an den Franzosen, und deshalb gab es keine Gnade.
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