«Genau, und der Papst legt Eier», bemerkte Wilkinson dazu.
«Jetzt?», fragte ein Mann. «Gehen wir jetzt gleich?» Doch Smithson antwortete nicht. Er zupfte nur an seiner Silberkette und ließ seinen Blick von rechts nach links wandern.
Hook starrte unverwandt die Bresche an. Sein Herz schlug wie rasend, sein Atem ging flach, und sein rechtes Bein zitterte. «Gott», betete er, «lieber Jesus, beschütze mich.» Doch er fand keinen Trost in dem Gebet. Alles, woran er denken konnte, war, dass der Feind es nach Soissons hereingeschafft hatte, oder Soissons angriff, und dass er nicht wusste, was vor sich ging. Er fühlte sich hilflos und verletzlich. Der Klang der Kirchenglocken hallte unablässig in seinem Kopf und brachte ihn ganz durcheinander. Die breite Bresche in der
Stadtmauer war bis auf das letzte Licht der abbrennenden Fackeln dunkel, doch dann sah Hook andere Lichter, die sich dort bewegten. Gleitende, silbergraue Lichter, Lichter wie Rauch im Mondlicht oder wie die Geister, die am Vorabend von Allerheiligen auf die Erde kamen. Sie waren schön; hauchdünn und durchscheinend wanderten sie durch die Dunkelheit. Er blickte unverwandt hin, fragte sich, woraus diese schimmernden Umrisse bestanden, und dann verwandelten sich die silbergrauen Schemen in rote, und ihm wurde mit einem Schreck bewusst, dass die wandernden Formen Männer waren. Er sah das Licht der ausgehenden Fackeln, das sich auf ihren Rüstungen spiegelte. «Sergeant!», rief er.
«Was ist?», schnappte Smithson.
«Die Bastarde sind da!», schrie Hook.
Und so war es.
Die Bastarde kamen durch die Bresche in der Stadtmauer. Ihre Metallpanzer waren spiegelnd blank gescheuert, sodass sie das Licht zurückwarfen, und sie rückten unter einem blauen Banner vor, auf dem goldene Lilien blühten. Ihre Visiere waren geschlossen, und ihre langen Schwerter blitzten im Fackelschein. Sie wirkten nicht länger durchscheinend, sondern wie Männer aus brennendem Metall, Phantome aus einem Höllentraum, der Tod, der durch die Dunkelheit nach Soissons kam. Hook konnte sie nicht zählen, so viele waren es.
«Oh, gottverdammt», sagte Smithson entsetzt. «Haltet sie auf!»
Hook tat, was ihm befohlen wurde. Er trat hinter die Befestigung, zog einen Pfeil aus der Leinentasche und legte ihn auf den Schaft seines Bogens. Seine Angst war mit einem Mal verschwunden, oder vielleicht war sie auch nur verdrängt worden von der sicheren Gewissheit, was getan werden musste. Hook musste die Bogensehne spannen.
Die meisten erwachsenen Männer auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte waren nicht in der Lage, die Sehne eines Kriegsbogens bis zu ihrem Ohr zurückzuziehen. Die meisten Kämpfer, Feldkämpfer, auch wenn sie vom Krieg und durch ständige Übung am Schwert gestählt waren, konnten die Hanfsehne nur halb so weit spannen, doch bei Hook wirkte es völlig mühelos. Sein Arm zuckte zurück, seine Augen suchten nach einem Ziel für die helle Pfeilspitze, und es kostete ihn keinen weiteren Gedanken, den Pfeil abschnellen zu lassen. Er griff schon nach dem zweiten Pfeil, während der erste, eine Ahlspitze mit schwerem Schaft, einen Brustpanzer aus schimmerndem Stahl durchschlug und den Mann gegen den französischen Standartenträger taumeln ließ.
Und erneut ließ Hook einen Pfeil abschnellen, ohne zu denken, nur erfüllt von dem Befehl, diesen Angriff zurückzuschlagen. Er schoss Pfeil auf Pfeil ab. Er zog die Sehne zu seinem rechten Ohr und war sich der winzigen Bewegungen seiner linken Hand nicht bewusst, mit denen er die weißbefiederten Pfeile zu ihrem kurzen Flug ins Ziel ausrichtete. Er war sich des Todes nicht bewusst, den er brachte, oder der Verletzungen oder der Pfeile, die wirkungslos an einer Rüstung abglitten. Die meisten aber waren nicht wirkungslos. Die schmalköpfigen Ahlspitzen-Pfeile bohrten sich auf diese kurze Entfernung mühelos durch die dünnen Rüstungen, und Hook hatte mehr Kraft als die meisten anderen Bogenschützen, die mehr Kraft als die meisten anderen Männer hatten, und sein Bogen war schwer. John Wilkinson hatte bei seiner ersten Begegnung mit Hook versucht, den Bogen des jüngeren Mannes zu spannen, und war mit der Sehne nur bis zu seinem Kinn gekommen. Er hatte Hook einen anerkennenden Blick zugeworfen, und jetzt schickte dieser lange Bogen mit dem schweren Schaft aus dem Stamm einer Eibe, die im fernen Savoyen gewachsen war, den Tod durch die glockendröhnende Dunkelheit. Hook aber sah nur den Feind, der durch die Bresche kam, in der flackernd die Fackeln brannten, er bemerkte die Massen von Männern nicht, die beidseits der Bresche über die Stadtmauer fluteten und schon versuchten, die Befestigung aus Weidenkörben niederzureißen. Dann stürzte ein Teil dieser Befestigung zusammen, und als Hook bei dem Geräusch herumfuhr, erkannte er, dass er der einzige Bogenschütze an der Befestigung war. Durch die Bresche, ungeachtet der Toten, die dort lagen, und der Verwundeten, die dort auf dem Boden krochen, stürmten immer mehr brüllende Männer. Die Nacht war erhellt vom Fackellicht, flammend rot, raucherfüllt, und hallte von Kriegsrufen wider. Da wurde Hook bewusst, dass ihm John Wilkinson zugerufen hatte, er solle weglaufen, doch im Eifer des Gefechts war dieser Ruf nicht bis zu seinem Verstand vorgedrungen.
Jetzt aber verstand er. Hook ergriff seine Pfeiltasche und rannte los.
Männer brüllten hinter ihm, als die Befestigung aus Weidenkörben endgültig einstürzte, und die Franzosen schwärmten über ihre Reste in die Stadt.
Plötzlich verstand Hook, wie sich der Hirsch fühlt, wenn die Hunde in jedem Gebüsch stöbern und die Männer durchs Unterholz streifen und die Pfeile durchs Blätterdach schlagen. Er hatte sich oft gefragt, ob ein Tier wusste, was der Tod war. Sie kannten die Angst, und sie kannten den Widerstand, doch kannten sie die überwältigende Panik? Wussten sie, dass die letzten Augenblicke des Lebens gekommen waren, wenn sich die Jäger nähern und das Herz rast und der Verstand nicht aus noch ein weiß? Diese Panik empfand Hook jetzt und rannte. Zuerst lief er einfach nur fort. Die Glocken dröhnten immer noch, Hunde bellten, Männer brüllten Kriegsrufe, und Hörner wurden geblasen. Er rannte auf einen kleinen Platz, ein Geviert, auf dem gewöhnlich die Lederhändler ihre Häute anboten und der still und verlassen dalag, doch dann hörte er das Geräusch einer Armbrust, die ausgelöst wurde, und begriff, dass sich die Leute hinter verrammelten Türen in ihren Häusern versteckten. Polternder Lärm verriet, wo Soldaten diese verrammelten Türen eintraten. Geh zur Festung, dachte er und rannte in die Richtung, doch als er um eine Ecke kam, sah er, wie sich auf dem weiten Platz vor der Kathedrale Männer drängten, deren unbekannte Wappenröcke von den Fackeln beleuchtet wurden, die sie trugen, und er zog sich wieder zurück wie ein Hirsch, der vor den Hunden Deckung sucht. Hook beschloss, zur Kirche von Saint-Antoine-Le-Petit zu gehen, und rannte eine Gasse hinunter, bog in eine andere ab, lief über den ungeschützten Platz vor dem größten Nonnenkloster der Stadt, dann wandte er sich zu der Straße, in der das Wirtshaus Oie lag. Dort sah er noch mehr Männer in fremden Uniformen, und diese Männer versperrten ihm den Weg zur Kirche. Sie entdeckten ihn, Rufe wurden laut, und die Rufe verwandelten sich in triumphierendes Gebrüll, während sie auf ihn zustürmten, und Hook, verzweifelt wie ein todgeweihtes Tier, lief in eine Gasse, kletterte auf die Mauer, mit der die Gasse plötzlich endete, sprang auf der anderen Seite in einen kleinen, nach Jauche stinkenden Hof, stieg über eine zweite Mauer, und dort, während von allen Seiten Rufe zu ihm drangen und er vor Angst zitterte, sank er in einer dunklen Ecke zusammen und erwartete sein Ende.
Ein gehetzter Hirsch verhielt sich ebenso. Wenn er keinen Ausweg sah, erstarrte er und wartete bebend auf den Tod, dessen unausweichliches Kommen er spürte. Und jetzt zitterte Hook. Besser, du bringst dich selber um, hatte John Wilkinson gesagt, als dich von den Franzosen schnappen zu lassen. Also tastete Hook nach seinem Messer, doch er konnte es nicht ziehen. Er konnte sich nicht umbringen, und so wartete er darauf, dass man ihn umbrachte.
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