«Man sollte nicht meinen», sagte John Wilkinson eines Abends, «dass du einer bist, der beten geht.»
«Das habe ich auch nie getan», sagte Hook, «bis jetzt.»
«Angst um dein Seelenheil?», fragte der alte Bogenschütze.
Hook zögerte. Er befestigte eine Pfeilbefiederung mit der Seide, die Wilkinson vom Altar der Kathedrale gestohlen hatte. «Ich habe eine Stimme gehört», brachte Hook mit einem Mal heraus.
«Eine Stimme?», fragte Wilkinson. Hook schwieg. «Gottes Stimme?», fragte der Alte nach.
«Es war in London», sagte Hook.
Er kam sich närrisch vor bei diesem Geständnis, doch Wilkinson nahm ihn ernst. Er starrte Hook lange an, dann nickte er unvermittelt. «Du bist ein glücklicher Mann, Nicholas Hook.»
«Bin ich das?»
«Wenn Gott zu dir gesprochen hat, dann muss Er eine Aufgabe für dich haben. Das bedeutet, dass du diese Belagerung überleben könntest.»
«Wenn es wirklich Gott war, der zu mir gesprochen hat», gab Hook verlegen zurück.
«Warum sollte Er es nicht getan haben? Er muss zu den Menschen sprechen, weil die Kirche Seinem Wort nicht folgt.»
«Tut sie das nicht?»
Wilkinson spuckte aus. «Der Kirche, mein Junge, geht es um Geld. Nur um Geld. Die Priester sollten Hirten sein, nicht wahr? Sie sollten sich um die Herde kümmern, aber sie sitzen alle nur in den Herrenhäusern, stopfen sich mit Leckereien voll und überlassen ihre Schäfchen sich selbst.» Er deutete mit dem Pfeil, an dem er gerade arbeitete, auf Hook. «Und wenn die Franzosen in die Stadt einbrechen, Hook, dann geh nicht zur Antoine-Le-Petit! Geh zur Festung.»
«Sir Roger ...», setzte Hook an.
«Will unseren Tod!», sagte Wilkinson voller Wut.
«Warum sollte er das wollen?»
«Weil er kein Geld, aber einen Buckel voller Schulden hat, Junge, also ist er für jeden Mann mit einem wohlgefüllten Beutel käuflich. Außerdem ist er kein richtiger Engländer. Seine Familie ist mit den Normannen nach England gekommen, und er hasst dich und mich, weil wir Sachsen sind und weil er bis zum Hals voll normannischem Dreck steckt. Du gehst zur Festung, hörst du, Junge? Merk dir das.»
Die nächsten Nächte waren stockdunkel und die Sichel des abnehmenden Mondes blitzte wie die schmale Klinge eines Halsabschneiders. Seigneur de Bournonville fürchtete einen nächtlichen Angriff und ließ Hunde im Brachland bei den niedergebrannten Häusern anketten. Wenn die Hunde anschlugen, sagte er, sollte die Alarmglocke am Westtor geläutet werden. Und die Hunde schlugen an, und die Glocke wurde geläutet, doch kein Franzose griff die Bresche in der Stadtmauer an. Stattdessen katapultierten die Belagerer, als das erste Morgengrauen über dem Fluss schimmerte, die Hundekadaver in die Stadt. Sie hatten die Tiere kastriert und ihnen die Kehlen aufgeschlitzt, um den trotzigen Verteidigern zu zeigen, welches Schicksal sie erwartete.
Das Fest von Sankt Abdus ging vorüber, und keine Hilfstruppen waren erschienen, und dann kam und ging das Fest von Sankt Possidius, und am nächsten Tag war das Fest der sieben heiligen Jungfrauen, und Hook betete zu jeder einzelnen von ihnen, und als der nächste Tag anbrach, sandte er eine Bitte zu Sankt Dustan, denn es war der Festtag dieses Engländers, und am Tag darauf betete er zu Sankt Ethelbert, der einst in England König gewesen war, und die ganze Zeit hindurch betete er auch zu Crispinian und Crispin, bat um ihren Schutz. Am nächsten Tag, zum Fest von Sankt Hospitius, erhielt er seine Antwort.
An diesem Tag nämlich griffen die Franzosen, die zu ihrem Sankt Denis gebetet hatten, Soissons an.
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Das Erste, was Hook von dem Angriff mitbekam, war das aufgeregte, wilde Durcheinander der Kirchenglocken.
Es war dunkel, und einen Moment lang war er vollkommen verwirrt. Er schlief auf einer Strohschütte hinten in John Wilkinsons Werkstatt und wachte zu lodernden Flammen auf, weil der alte Mann Holz in die Kohlenpfanne geworfen hatte, um für Licht zu sorgen. «Lieg nicht nun wie eine trächtige Sau, Junge», sagte Wilkonson. «Sie sind da.»
«Heilige Maria Muttergottes!» Wie Eiswasser schwappte der Schrecken durch Hooks Glieder.
«Ich ahne, dass sie uns jetzt nicht helfen wird», sagte Wilkinson. Er zog sein Kettenhemd über und musste kämpfen, um das schwere Gliedertuch über seinen Kopf zu ziehen. «An der Tür steht eine Pfeiltasche», fuhr er fort, die Stimme durch das Hemd gedämpft, «lauter kerzengerade Pfeile. Die habe ich für dich aufgehoben. Los, Junge, bring ein paar von den Bastarden um.»
«Was ist mit Euch?», fragte Hook. Er zog seine Stiefel an. Es waren neue Stiefel von einem guten Schuster in Soissons.
«Ich hole dich ein! Spann deinen Bogen, Junge, und geh los!»
Hook legte seinen Schwertgürtel an, bespannte seinen Bogen, griff sich seine Pfeiltasche, nahm auch die zweite neben der Tür und rannte in den Hof des Gasthauses. Er hörte Rufe und Schreie, doch von wo sie kamen, konnte er nicht ausmachen. Bogenschützen eilten durch den Hof, und er folgte ihnen, ohne nachzudenken, zu der neuen Befestigung hinter der Bresche. Die Kirchenglocken erfüllten den Nachthimmel mit dröhnenden Schlägen. Hunde bellten und jaulten in der Dunkelheit.
Hook besaß keine Rüstung bis auf einen alten Helm, den ihm Wilkinson gegeben hatte und der auf seinem Kopf saß wie eine umgedrehte Schüssel. Er trug eine gepolsterte Jacke, die vielleicht einen leichten Schwerthieb mildern konnte, doch das war auch schon alles. Andere Bogenschützen hatten kurze Kettenhemden und gut sitzende Helme, und darüber trugen sie alle den burgundischen Wappenrock mit dem gezackten roten Kreuz. Hook sah, wie sie an der neuen Befestigung Aufstellung nahmen. Sie bestand aus übereinandergestapelten Weidenkörben, die mit Erde gefüllt waren. Keiner der Bogenschützen hatte die Sehne gespannt, stattdessen schauten sie gebannt in Richtung der Bresche, wo es plötzlich hell wurde, als burgundische Bewaffnete Pechfackeln in die Lücke warfen.
Etwa fünfzig Kämpfer standen an der neuen Befestigung, doch in der Bresche erschien kein einziger Feind. Dennoch läuteten die Glocken mit aller Macht weiter. Hook drehte sich um und entdeckte über den Dächern im Süden der Stadt einen Schimmer, einen Schimmer, der grell über den Turm der Kathedrale zuckte und bewies, dass irgendwo in der Nähe des Pariser Tores Gebäude in Flammen standen. Griffen die Franzosen dort an? Den Befehl am Pariser Tor führte Sir Roger Pallaire, und es wurde von englischen Truppen verteidigt. Hook fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Sir Roger die englischen Bogenschützen nicht in diese Verteidigungsgruppe aufgenommen hatte.
Stattdessen warteten die Bogenschützen an der Bresche im Westen, in der immer noch kein Feind auftauchte. Smithson, der Centenar, war unruhig. Immerzu befingerte er die schwere Silberkette, die seinen Rang bezeichnete, und sah abwechselnd zu dem Widerschein des Feuers im Süden und dann wieder zur Bresche hinüber. «Teufelsschiss», sagte er zu niemandem im Besonderen.
«Was geht da vor?», fragte einer der Bogenschützen.
«Woher soll ich das wissen, verdammt?», knurrte Smithson.
«Ich glaube, sie sind schon in der Stadt», sagte John Wilkinson gelassen. Er hatte ein Dutzend Bündel zusätzlicher Pfeile mitgebracht, die er nun hinter den Bogenschützen auf den Boden fallen ließ. Schreie klangen aus dem Inneren der Stadt zu ihnen, und ein Trupp burgundischer Armbrustschützen rannte an Hook vorbei. Sie verließen die Bresche, um am Pariser Tor zu kämpfen. Ein paar Feldkämpfer folgten ihnen.
«Wenn sie in der Stadt sind», sagte Smithson unsicher, «dann sollten wir in die Kirche gehen.»
«Nicht in die Festung?», fragte ein Mann drängend.
«Ich denke, wir gehen in die Kirche», sagte Smithson, «wie es Sir Roger gesagt hat. Er ist adlig, oder nicht? Er muss wissen, was er tut.»
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