Die Männer sprachen kurz miteinander, dann verneigten sie sich erneut, und die königlichen Herolde wendeten ihre Pferde und ritten davon. Seigneur de Bournonville sah ihnen einen Moment lang nach und ließ sein eigenes Pferd dann ebenfalls umdrehen. Er galoppierte zurück zur Stadt, zügelte sein Pferd am brennenden Haus des Färbers und erhob die Stimme, um etwas zur Stadtmauer hinaufzurufen. Er sprach Französisch, das Hook noch kaum verstand, doch dann fügte er einige Worte auf Englisch hinzu. «Wir kämpfen! Wir werden den Franzosen diese Festung nicht überlassen! Wir kämpfen, und wir werden sie besiegen!»
Betretenes Schweigen war die Antwort. Sowohl die Burgunder als auch die Engländer blieben ihrem Befehlshaber das Echo auf seine trotzige Widerstandserklärung schuldig. Dancy seufzte, und dann sirrte ein Armbrustbolzen über sie hinweg und schlug klappernd auf der Straße auf. De Bournonville hatte eine Reaktion seiner Männer auf der Stadtmauer erwartet, doch als keine kam, gab er seinem Pferd die Sporen und ritt in die Stadt. Hook hörte die riesigen Scharniere des Tores kreischen, den Knall, als die schweren Torflügel zusammenschlugen, und den dumpfen Schlag, mit dem der Sperrbalken in seine Halterungen fiel.
Vor der Sonne lag nun ein Schleier. Ihre hellen rotgoldenen Strahlen drangen durch die abziehenden Rauchwolken. Ein Trupp feindlicher Reiter ritt an der Stadtmauer entlang. Es waren Feldkämpfer mit Rüstungen und Helmen. Einer von ihnen, der auf einem großen schwarzen Pferd saß, rührte ein merkwürdiges Banner. Es war kein Wappen darauf, es war nur eine schmales hellrotes Banner, ein sich wellender Streifen Seidenblut, durch den die dunstigen Sonnenstrahlen schimmerten, und dennoch Schlugen die Männer auf dem Wall bei seinem Anblick das Kreuz.
«Die Orifiamme», murmelte Dancy.
«Oriflamme?»
«Die französische Kriegsfahne», sagte Dancy. Er berührte seine Zunge mit dem Mittelfinger und bekreuzigte sich noch einmal. «Es bedeutet, dass keine Gefangenen gemacht werden», fuhr er düster fort. «Es bedeutet, dass sie uns alle töten wollen.» Er machte einen Schritt rückwärts und fiel zu Boden.
Einen Herzschlag lang verstand Hook nicht, was passiert war. Dann glaubte er, Dancy müsse gestolpert sein, und streckte unwillkürlich die Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Und erst in diesem Augenblick sah er den mit Lederstreifen befiederten Armbrustbolzen, der aus Dancys Stirn ragte. Blut war kaum zu sehen. Ein paar Tropfen waren auf Dancys Gesicht gespritzt, doch abgesehen davon wirkte es ganz friedlich. Hook ließ sich auf ein Knie nieder und starrte den dicken Schaft des Bolzens an. Kaum eine Handbreit ragte aus dem Schädel, die übrige Länge hatte sich tief in das Gehirn des Mannes aus Herefordshire gebohrt, und Dancy war ohne einen Laut gestorben. Nur der Bolzen hatte ein Geräusch wie eine Fleischeraxt gemacht, als er sein Ziel getroffen hatte. «Jack?», fragte Hook leise.
«Spar dir den Atem, Nick», sagte einer der anderen Bogenschützen, «der verhandelt jetzt schon mit dem Teufel.»
Hook stand auf und drehte sich um. Später wusste er kaum noch, was passiert oder gar, warum es passiert war. Jack Dancy war ja nicht einmal ein enger Freund von ihm gewesen. Hook hatte in Soissons keine Freunde, außer vielleicht John Wilkinson. Doch plötzlich flammte in ihm die Wut auf. Dancy war ein Engländer, und in Soissons fühlten sich die Engländer von der Seite, für die sie kämpften, ebenso abgelehnt wie vom Feind, und jetzt war Dancy tot, und deshalb zog Hook einen gefirnissten Pfeil aus der weißleinenen Pfeiltasche, die an seiner rechten Seite hing.
Er drehte sich um, senkte den Bogen quer vor sich, legte den Pfeil über die Mitte und hakte den Pfeilschaft mit dem linken Daumen fest. Dann schwang er den Langbogen in die Senkrechte, während er mit der Rechten das befiederte Pfeilende erfasste und es mit der Sehne zurückzog.
«Wir sollen nicht schießen», sagte einer der anderen Bogenschützen.
«Verschwende keinen Pfeil!», fiel ein anderer ein.
Die Sehne rieb an Hooks rechtem Ohr. Seine Augen glitten über den rauchgeschwängerten Grund vor der Stadt und fanden einen Armbrustschützen, der hinter einer Pavese hervortrat, die mit gekreuzten Äxten bemalt war.
«Du kannst nicht so weit schießen wie sie», ermahnte ihn der erste Bogenschütze.
Doch Hook war von Kindesbeinen an mit dem Bogen vertraut. Er hatte seine Kräfte so lange gestählt, bis er die Sehnen der größten Kriegsbogen spannen konnte, und er hatte gelernt, dass man nicht mit dem Auge zielte, sondern mit dem Geist. Er erkannte sein Ziel, und dann zwang er dem Pfeil seinen Willen auf, und die Hände richteten unbewusst den Bogen aus. Der Armbrustschütze hob indes seine schwere Waffe. Zwei Bolzen schwirrten an Hooks Kopf vorbei durch die Abendluft.
Er bemerkte sie nicht einmal. Es war wie der Moment im Unterholz, wenn sich das Reh einen Augenblick lang zwischen dem Laub gezeigt hatte und der Pfeil abschnellte, ohne dass der Schütze überhaupt wusste, dass er die Sehne freigegeben hatte. «Die ganze Kunst liegt zwischen deinen Ohren, mein Junge», hatte ihm ein Dorfbewohner vor Jahren erklärt, «einzig und allein zwischen deinen Ohren. Du zielst nicht mit dem Bogen. Du denkst einfach nur daran, wohin der Pfeil fliegen soll, und dorthin fliegt er.» Hook ließ die Sehne los.
«Du verdammter Narr», sagte ein Bogenschütze, und Hook sah die weißen Gänsefedern durch die raucherfüllte Luft zucken und den Pfeil schneller niederfahren als einen zuschlagenden Falken. Stahlbewehrter, seidenbezwirnter, eschengeschnitzter, weißbefiederter Tod schwang sich durch die Abendstille.
«Gütiger Gott», murmelte der erste Bogenschütze.
Der Armbrustschütze starb keinen so leichten Tod wie Dancy. Hooks Pfeil durchbohrte seine Kehle. Der Mann schnellte herum, und die Armbrust löste sich selbst aus, sodass der Bolzen ziellos in die Höhe schoss, während der Mann rücklings hinstürzte, zuckte und sich mit beiden Händen an die Kehle griff, wo der Schmerz wie flüssiges Feuer brannte. Über ihm hatte sich der Himmel nun rot gefärbt, blutrot vom Widerschein der Feuer und den lodernden Farben des Sonnenuntergangs.
Das, dachte Hook, war ein guter Pfeil. Mit geradem Schaft und ordentlich mit Federn besetzt, die alle aus demselben Gänseflügel gerupft worden waren. Treu war er seiner Bahn gefolgt. Er war dahin geflogen, wo Hook ihn hingezwungen hatte, und er hatte einen Mann im Krieg getötet. Nun endlich war Hook ein echter Bogenschütze.
***
Am zweiten Abend der Belagerung dachte Hook, das Ende der Welt sei gekommen.
Es war ein klarer, warmer Abend kurz vor der Dämmerung. Der Fluss wand sich träge zwischen seinen blumenbestandenen Ufern hin, an denen Weiden und Erlen wuchsen. Schlaff hingen die französischen Banner über den Zelten. Immer noch stieg Rauch von den niedergebrannten Häusern auf und verlor sich weit oben im wolkenlosen Himmel. In weiten, eiligen Bögen jagten Mauersegler und Schwalben auf der Jagd nach Mücken um die Stadtmauer.
Nicholas Hook lehnte an der Brustwehr. Seinen unbespannten Bogen neben sich, dachte er an England, an das Herrenhaus, an die Felder hinter der langgestreckten Scheune, auf denen nun bald das Gras gemäht werden würde. Hasen würden im hohen Wiesengras sitzen, Forellen durch den Fluss schnellen, und im Zwielicht würden die Lerchen singen. Er dachte an den verfallenden Viehstall auf dem Feld, das Shortmead genannt wurde, den Stall mit dem einbrechenden Strohdach, über das ein Vorhang aus Geißblatt hing, hinter dem sich William Snoballs junge Frau Neil mit ihm zu heimlichen, leidenschaftlichen Liebesstunden getroffen hatte. Er fragte sich, wer wohl im Dreiknöpfewald das Niederholz auf Stock setzte, und wie immer, wenn er an diesen Wald dachte, fragte er sich auch, wie er zu seinem Namen gekommen war. Das Gasthaus im Dorf hieß ebenfalls Drei Knöpfe, doch niemand wusste, weshalb, nicht einmal Lord Slayton, der manchmal an seinen Krücken hereinhinkte und mit ein paar Silbermünzen auf der Küchendurchreiche sämtliche Gäste zu einem Ale einlud. Dann dachte Hook an die bösartigen, allgegenwärtigen Perrills. Er konnte nicht mehr nach Hause, niemals mehr, denn er war ein Geächteter. Die Perrills konnten ihn töten und wären keine Mörder, nicht einmal Totschläger, denn einen Geächteten schützte kein Gesetz. Dann fiel ihm das Fenster in dem Stall in London ein. Gott hatte gewollt, dass er das Lollardenmädchen durch dieses Fenster rettete, doch er hatte versagt. Damit war es für immer von dem himmlischen Licht abgeschnitten, das hinter diesem Fenster geleuchtet hatte, davon war er überzeugt. Sarah. Er murmelte ihren Namen oft, so als könne die Wiederholung ihm Vergebung bringen.
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