sein, die Bresche zu verteidigen. Ich kann nicht sagen, wann der Feind angreifen wird, aber ich kann euch versichern, dass es bald geschieht. Ich vertraue darauf, dass ihr jeden derartigen Angriff abwehrt.»
«Das werden wir, Sir!», warf Smithson ein. «Verlasst Euch darauf!»
Bei dieser Bemerkung überlief ein Zucken Sir Rogers langes Gesicht. In der englischen Truppe gingen Gerüchte darüber um, dass er sich von italienischen Bankhäusern Geld geliehen hatte, weil er fest damit gerechnet hatte, von einem Onkel ein Landgut vererbt zu bekommen. Doch dann war das Gut an einen Cousin gegangen, und nun schuldete Sir Roger den gnadenlosen Lombarden ein Vermögen. Die einzige Hoffnung, die er hatte, seine Schuld zu begleichen, war, einen reichen französischen Ritter gefangen zu nehmen und gegen Lösegeld wieder freizulassen. Und das war vermutlich auch der einzige Grund, aus dem er in die Dienste des Herzogs von Burgund getreten war. «Für den Fall», sagte er, «dass es euch nicht gelingen sollte, den Feind aus der Stadt herauszuhalten, werdet ihr euch hier sammeln, in dieser Kirche.» Diese Worte lösten leises Gemurmel unter den Bogenschützen aus. Für den Fall, dass sie die Bresche nicht verteidigen konnten und die neue Befestigung dahinter verloren, hatten sie damit gerechnet, sich in die Festung zurückzuziehen.
«Sir Roger?» Smithsons Frage kam zögernd.
«Ich habe nicht um Fragen gebeten», sagte Sir Roger.
«Gestattet dennoch,'Sir Roger», beharrte Smithson mit unterwürfiger Stimme, «aber wären wir nicht in der Festung sicherer?»
«Ihr werdet euch hier in dieser Kirche sammeln!», sagte Sir Roger nachdrücklich.
«Warum nicht in der Festung?», fragte der Bogenschütze neben Hook streitlustig.
Sir Roger hielt inne und ließ seinen Blick auf der Suche nach demjenigen, der gesprochen hatte, durch das dämmrige Kirchenschiff schweifen. Er konnte ihn nicht entdecken. «Den Stadtleuten», sagte er schließlich, «sind wir verhasst. Wenn ihr versucht, die Festung zu erreichen, metzeln sie euch in den Straßen nieder. Diese Kirche steht viel näher an der Bresche, also kommt hierher.» Er unterbrach sich kurz. «Ich werde mich bemühen, eine Waffenruhe für euch auszuhandeln.»
Eine unbehagliche Stille trat ein. Sir Rogers Erklärung ergab Sinn. Die Bogenschützen wussten, dass sie von den meisten Bewohnern Soissons gehasst wurden. Es waren Franzosen, sie unterstützten ihren König und hassten die Burgunder, aber die Engländer hassten sie noch mehr, daher war es nur allzu wahrscheinlich, dass sie versuchen würden, die Bogenschützen auf ihrem Rückzug in die Festung anzugreifen. «Eine Waffenruhe», sagte Smithson zweifelnd.
«Frankreich liegt mit den Burgundern im Streit», sagte Sir Roger, «nicht mit uns.»
«Und werdet auch Ihr hierherkommen, Sir Roger?», rief einer der Bogenschützen.
«Gewiss», sagte Sir Roger. Er wartete, doch keiner äußerte sich mehr. «Kämpft gut», sagte er schließlich kühl, «und denkt daran, dass ihr Engländer seid!»
«Waliser!», riefen ein paar Männer. Sir Roger zuckte bei diesen Rufen sichtbar zusammen, und dann ging er ohne ein weiteres Wort an der Spitze seiner drei Feldkämpfer aus der Kirche. Ein Proteststurm erhob sich, als er verschwunden war. Die Kirche Saint-Antoine-Le-Petit war aus Stein erbaut und leicht zu verteidigen, dennoch war sie nicht annähernd so sicher wie die Festung, auch wenn es zutraf, dass die Festung am anderen Ende der Stadt lag. Hook fragte sich, wie schwierig es werden würde, diese Zuflucht zu erreichen, wenn die Städter die Straßen blockierten
und die französischen Feldkämpfer durch die Lücken in der Stadtmauer drangen. Er sah zu einem Wandgemälde empor, das Männer, Frauen und Kinder zeigte, wie sie in die Hölle hinabstürzten. Auch Priester und sogar Bischöfe waren unter den verdammten Seelen, die in einer wilden Kaskade in einen Feuersee fielen, wo sie von schwarzen Teufeln mit lüsternen Mienen und dreizackigen Aalspeeren erwartet wurden. «Du wirst dich in die Hölle wünschen, wenn die Franzosen dich erwischen», sagte Smithson, der bemerkt hatte, wohin Hook sah. «Ihr würdet alle um die Freuden der Hölle betteln, wenn diese französischen Bastarde euch kriegen. Also denkt daran! Wir kämpfen an der Befestigung hinter der Bresche, und falls es wirklich beschissen läuft, kommen wir hierher.»
«Aber warum hierher?», rief ein Mann.
«Weil Sir Roger weiß, was er tut», sagte Smithson und klang dabei alles andere als überzeugt, «und wenn ihr hier eine Liebste habt», fuhr er mit einem schmutzigen Grinsen fort, «dann sorgt dafür, dass die kleine Süße mit euch kommt.» Er schob seine massigen Lenden vor und zurück. «Wir wollen doch nicht, dass die halbe französische Armee über unsere Liebsten herfällt, oder?»
Am nächsten Morgen hielt Hook wie jeden Morgen bei den niedrigen bewaldeten Hügeln hinter der Aisne nach den burgundischen Truppen Ausschau, die der belagerten Garnison zu Hilfe kommen sollten. Doch sie kamen nicht. Die großen Kanonensteine schwirrten über die verkohlten Ruinen der verbrannten Häuser, schlugen in die zerfallende Stadtmauer ein, Staubwolken erhoben sich, sanken auf den Fluss nieder und zogen mit ihm wie große graue Flecken auf dem Wasser Richtung Meer. Hook stand jeden Morgen in der Dämmerung auf und ging in die Kathedrale, wo er niederkniete und betete. Er war davor gewarnt worden, allein durch die Stadt zu gehen, doch die Einwohner von Soissons ließen ihn in Ruhe. Vielleicht waren sie von seiner Größe und Kraft eingeschüchtert, vielleicht wussten sie aber auch, dass er der einzige Bogenschütze war, der regelmäßig betete, und tolerierten ihn deshalb. Er hatte damit aufgehört, zu Sankt Crispin und Sankt Crispinian zu beten, weil er vermutete, dass den Heiligen die Stadtbewohner mehr am Herzen lagen, und so betete er stattdessen zur Muttergottes, denn auch seine eigene Mutter hatte Mary geheißen. Er betete zur Heiligen Jungfrau um Vergebung für den Tod des Mädchens in London. An einem dieser Morgen kniete sich ein Priester neben ihn. Hook beachtete ihn nicht.
«Du bist der Engländer, der betet», sagte der Priester auf Englisch und verhaspelte sich sogleich in der ungewohnten Sprache. Hook erwiderte nichts. «Die Leute fragen sich, warum du betest», fuhr der Priester fort und deutete mit dem Kinn auf die Frauen, die vor anderen Statuen und Altären knieten.
Hooks Gefühl sagte ihm, er solle nicht mit dem Mann sprechen, doch der Priester hatte ein freundliches Gesicht und eine sanfte Stimme. «Ich bete einfach bloß», gab er mürrisch zurück.
«Betest du für dich selbst?»
«Ja», gab Hook zu. Er betete, damit Gott ihm vergab und den Fluch von ihm nahm, der nach Hooks Überzeugung sein Leben zerstörte.
«Dann erbitte etwas für jemand anders», lautete der gütige Rat des Priesters. «Gott erhört solche Gebete bereitwilliger, glaube ich, und wenn du für jemand anders betest, dann wird Er deine eigene Bitte ebenfalls erfüllen.» Lächelnd erhob er sich und berührte Hook leicht an der Schulter. «Und bete zu unseren Heiligen, Crispin und Crispinian. Ich vermute, sie sind weniger beschäftigt als die Heilige Jungfrau. Gott behüte dich, Engländer.»
Der Priester ging davon, und Hook beschloss, seinem Rat zu folgen und wieder zu den beiden Ortsheiligen zu beten.
Also ging er zu einem Altar unter einem Gemälde von den beiden Märtyrern und betete für die Seele Sarahs, deren Leben er in London nicht retten konnte. Während er betete, sah er zu dem Bild hinauf. Die beiden Heiligen standen in einem grünen Feld, das mit goldenen Sternen übersät war, auf einem Hügel hoch über einer Stadt mit weißen Mauern. Sie blickten ernst und ein wenig traurig auf Hook nieder. Sie trugen weiße Gewänder, und Crispin stützte sich auf einen Hirtenstab, während Crispinian einen Weidenkorb mit Äpfeln und Birnen in der Hand hielt. Ihre Namen waren unter die Gestalten geschrieben, und Hook, auch wenn er nicht lesen konnte, wusste, welcher Heilige welcher war, weil einer der Namen länger war als der andere. Crispinian war der Freundlichere von beiden. Er hatte ein runderes Gesicht mit blauen Augen und einem angedeuteten Lächeln von großer Güte, während Crispin wesentlich strenger wirkte und sich halb von dem Betrachter abgewandt hatte, so als habe er keine Zeit und sei gerade dabei, den Hügel hinunter in die Stadt zu gehen. Und so gewöhnte sich Hook an, allmorgendlich zu Crispinian zu beten, auch wenn er Crispin dabei nie vergaß. Jedes Mal, wenn er betete, warf er zwei Pennys in den Kupfertopf.
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