Der Eschenpfeil war länger als Hooks Arm. Und er war krumm. «Krumm», sagte Hook.
«Gekrümmt wie ein Bischof! Mit dem kann man nicht schießen! Da schießt man um die Ecke!»
In Wilkinsons Stall war es heiß. Der alte Mann hatte in einem runden Ziegelofen ein Feuer entzündet, über dem ein Wasserkessel dampfte. Er nahm Hook den gekrümmten Pfeil aus der Hand und legte ihn zusammen mit einem Dutzend anderen auf den Wasserkessel. Anschließend breitete er vorsichtig eine dicke Lage gefalteten Stoffs über die Eschenschäfte und beschwerte die Stofflagen mit einem Stein. «Ich dämpfe sie, Junge», erklärte Wilkinson, «ich beschwere sie, und wenn ich Glück habe, kann ich sie gerade ziehen. Nebenbei fällt bei dem ganzen Dampf die Befiederung ab. Aber die Hälfte ist ja ohnehin nicht befiedert.»
Über einer Kohlenpfanne hing ein zweiter, kleinerer Kessel, aus dem der Gestank von Hufleim aufstieg. Wilkinson benutzte diesen Leim, um die Gänsefedern an die Pfeile zu kleben. «Und Seide haben wir auch keine», murrte er, «also muss ich Sehnen verwenden.» Mit den Sehnen wurden die geschlitzten Federkiele an das Pfeilende gebunden, um die Haftstärke des Leims zu erhöhen. «Aber Sehnen taugen nichts», beschwerte sich Wilkinson, «sie trocknen aus, schrumpfen und werden spröde. Ich habe Sir Roger gesagt, dass wir Seidenzwirn brauchen, aber er versteht nichts davon. Er denkt, ein Pfeil ist bloß ein Pfeil, aber das stimmt nicht.» Er verknotete eine Sehne und drehte den Pfeil dann in den Händen, um die Kerbe zu begutachten, in der beim Abschuss des Pfeils die Sehne liegen würde. Diese Kerbe nannte man Nocke. Sie war durch eine Hornscheibe verstärkt, die verhinderte, dass der Zug der Bogensehne den Schaft des Pfeils spaltete. Das Horn widerstand Wilkinsons prüfendem Geruckel, und er grunzte in widerstrebender Befriedigung, bevor er den nächsten Pfeil aus der Lederhalte-rung nahm. Zwei Lederscheiben mit gezahnten Rändern hielten jeweils zwei Dutzend Pfeile fest, sodass die empfindliche Befiederung aus Gänsefedern beim Transport keinen Schaden nahm. «Federn und. Horn, Esche und Seide, Stahl und Firnis», sagte Wilkinson bedächtig. «Dein Bogen kann so gut sein, wie er will, und dein Bogenschütze auch - aber wenn dir Federn und Esche und Horn und Seide und Stahl und Firnis fehlen, könntest du genauso gut gegen den Feind antreten, indem du ihn anspuckst. Schon mal einen Mann getötet, Hook?»
«Ja.»
Wilkinson entging der streitlustige Ton nicht, und er grinste. «War es Mord? Oder war es in der Schlacht? Hast du schon mal einen Mann in einer Schlacht getötet?»
«Nein», gab Hook zu.
«Schon mal einen Mann mit deinem Bogen getötet?»
«Einen, einen Wilderer.»
«Hatte er auf dich geschossen?»
«Nein.»
«Dann bist du kein Bogenschütze. Töte einen Mann in der Schlacht, Hook, und du kannst dich Bogenschütze nennen. Wie hast du deinen letzten Mann umgebracht?»
«Ich habe ihn erhängt.»
«Und warum hast du das getan?»
«Weil er ein Häretiker war», erklärte Hook.
Wilkinson fuhr sich mit der Hand durch das lichter werdende graue Haar. Er war mager wie ein Wiesel und hatte einen schwermütigen Ausdruck in seinen klugen Augen, die Hook jetzt grimmig anblickten. «Du hast einen Häretiker gehängt?», fragte er. «Denen ist wohl das Feuerholz ausgegangen in England, was? Und wann hat diese Ruhmestat stattgefunden?»
«Vergangenen Winter.»
«Es war ein Lollarde, oder?», fragte Wilkinson und grinste höhnisch, als Hook nickte. «Du hast also einen Mann gehängt, weil er sich mit der Kirche über ein Stück Brot gestritten hat? , sagt der Herr. Der Herr sagt nichts davon, dass Er ein Stück totes Brot auf dem Abendmahlsteller eines Priesters ist, oder etwa doch? Er hat nicht gesagt: , oder etwa doch? Nein, Er hat gesagt, dass Er das lebendige Brot ist, mein Sohn, aber du wusstest zweifellos besser als Er, was du zu tun hast.»
Hook nahm die Herausforderung in Wilkinsons Worten wahr, doch er fühlte sich außerstande, etwas darauf zu erwidern. Er hatte sich nie viel um die Religion oder um Gott gekümmert, jedenfalls nicht, bevor er diese Stimme in seinem Kopf gehört hatte, und inzwischen fragte er sich manchmal, ob es diese Stimme überhaupt wirklich gegeben hatte. Er erinnerte sich an das Mädchen im Stall des Londoner Wirtshauses, daran, wie sie ihre Augen flehentlich auf ihn gerichtet hatte, und daran, wie er sie ihm Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich an den beißenden Gestank brennenden Fleisches, an den Rauch, der vom leichten Wind über die Lilien und Leoparden des englischen Wappens gewirbelt worden war. Und er erinnerte sich an das Gesicht des jungen Königs, dieses vernarbte, unerbittliche Gesicht.
«Aus dem hier», sagte Wilkinson und nahm einen Pfeil mit einer verzogenen Spitze in die Hand, «können wir einen richtigen Todesengel machen. Damit lassen wir ein paar adlige Seelen zur Hölle fahren.» Er legte den Pfeil auf einen Hackklotz und wählte ein Messer aus, dessen Schärfe er mit dem Daumennagel prüfte. Dann schnitt er mit einer schnellen Bewegung das oberste Stück des Pfeils ab und warf es Hook zu. «Mach dich nützlich, Junge, und hol die Ahlspitze raus.»
Der Pfeilkopf bestand aus einem schmalen Stück Stahl, das etwas länger war als Hooks Mittelfinger. Es war ein Dreikant, der zur Spitze hin scharf geschliffen war. Widerhaken gab es keine. Die Ahlspitze war schwerer als die meisten anderen Pfeilköpfe. Wenn sie aus geringer Entfernung mit einem der großen Kriegsbögen verschossen wurde, die nur ein Mann mit den Kräften eines Herkules spannen konnte, bohrte sie sich auch in die beste Panzerrüstung. Dieser Pfeilkopf war ein Rittertöter, und Hook ruckte daran herum, bis der Leim in dem Holzschaft nachgab und sich die Ahlspitze löste.
«Nein.»
Wilkinson saß über den Pfeilschaft gebeugt Er benutzte eine kleine Säge, deren Blatt kaum länger als sein kleiner Finger war, um in die abgeschnittene Seite des Pfeils eine keilförmige Kerbe zu schneiden. «Weißt du, wie sie diese Spitzen härten?», fragte er. «Sie machen es so», sagte Wilkinson und hielt beim Sprechen die Augen auf seine Arbeit gerichtet, «sie werfen Knochen ins Feuer, wenn sie das Eisen machen. Knochen, Junge, Knochen. Trockene Knochen, tote Knochen. Und? Warum sollten tote Knochen in der brennenden Kohle Eisen in Stahl verwandeln?»
«Ich weiß nicht.»
«Und ich genauso wenig, aber es geschieht. Knochen und Kohle», sagte Wilkinson. Er hielt den eingekerbten Pfeil hoch, blies ein bisschen Sägestaub von der Schnittfläche und nickte zufrieden. «Ich kannte einen Burschen in Kent, der Menschenknochen benutzt hat. Er glaubte, dass man mit einem Kinderschädel den besten Stahl machen kann, und vielleicht hatte er ja recht. Der Bastard hat sie immer auf den Friedhöfen ausgegraben, in Stücke gehauen und sie in seinem Schmiedefeuer verbrannt. Kinderschädel und Kohle! Dieser Kerl war wirklich durch und durch verkommen, aber seine Pfeile konnten töten. Und wie sie töten konnten! Sie haben die Rüstungen nicht durchschlagen, sie sind hineingefahren wie in Schweineschmalz!» Wilkinson hatte einen kurzen Holzschaft aus Eiche herausgesucht, während er sprach. Ein Ende war schon keilförmig beschnitzt und passte in die Kerbe, die er in den abgeschnittenen Eschenschaft gesägt hatte. «Sieh dir das an», sagte er stolz, «es passt haargenau. Ich mache diese Arbeit wirklich schon zu lange!» Er ließ sich von Hook die Ahlspitze reichen und stülpte ihre Aufsatztülle über das andere Ende des Eichenschaftes. «Ich leime alles zusammen», sagte er, «und dann kannst du jemanden damit töten.» Er drehte den Pfeil bewundernd in der Hand. «Glaub mir, Junge», fuhr der alte Mann grimmig fort, «bald wirst du mit dem Töten anfangen.»
«Werde ich das?»
Wilkinson lachte kurz und ohne jede Belustigung auf. «Der König von Frankreich mag vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sein, aber er wird dem Herzog von Burgund bestimmt nicht Soissons überlassen. Dafür sind wir viel zu nahe bei Paris! Die Männer des Königs werden schon bald hier sein, und wenn sie in die Festung kommen, bringst du dich am besten um. Die Franzosen mögen die Engländer nicht, und englische Bogenschützen hassen sie, und wenn sie dich gefangen nehmen, mein Junge, dann gnade dir Gott, bis du endlich tot bist.» Er sah Hook an. «Ich meine es ernst, Hook. Besser, man schneidet sich die Kehle durch, als sich von einem Franzosen erwischen zu lassen.»
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