Adolf Wilbrandt - Adams Söhne

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Adolf Wilbrandt

Adams Söhne

Erstes Buch

I. Kapitel

Es war Julis Anfang, und ein richtiger, heißer, kornreifender Sommertag. Wittekind war am Morgen vom Hintersee über die Schwarzbachwacht nach Reichenhall gewandert, und seinen fünfundvierzig Jahren tat es doch wohl, in dem tiefen Schatten eines menschengefüllten Wirtsgartens auszuruhen und sich an einem leidlichen Mittagsmahl zu stärken. Er hatte den Ranzen, mit dem er ganz nach seiner alten Weise dahinzog, neben sich gelegt, fühlte diese angenehme Erregung und behagliche Glut, die nach einer heißen Wanderung noch so sachte fortglüht, und beobachtete die Hunderte von Sommergästen an den kleinen Tischen.

Indessen eine gewisse Unruhe in ihm ward nicht ganz beschwichtigt, und sie galt in diesem Augenblick weniger dem lieben Jungen, seinem Sohn, den er heute wiedersehen sollte, als dem Untersberg, dem ihn seine Wanderung so nahe gebracht hatte. Der Untersberg ragt aus den Tälern, die sein breites Fußgestell umgeben, inselgleich hervor; wie ein verwildertes Dreieck, von etwas unsicherer Hand bei geschlossenen Augen gemacht. Von welcher Seite man ihn auch sehen mag, immer ist er einer Riesenburg ähnlich, mit langgestreckten Mauern, hinter denen sich eine Welt von Höfen und Häusern verbergen könnte; auch das Haus des alten Kaisers, den die Sage hier im ›Wunderberg‹ sein Leben fortträumen ließ, – was nun nicht mehr nottut. Wittekind hatte die Wege, die am Untersberg hinführen, schon in jungen Jahren alle unter seinen Füßen gehabt, nur den einen nicht, der am Nordrand, von Reichenhall her, gegen die Salzach führt. An dem großen Dreieck fehlte noch ein Stück.

Er musste selber lächeln, als er daran dachte; aber wie einem oft aus der Jugendzeit dieser oder jener unerfüllte Wunsch, ein Plan, eine Sehnsucht bleibt, die wie Luftblasen im stillen Wasser immer wieder auftauchen, so erging es ihm mit diesem letzten Stück Weges, das von je zu seinen Wandersträumen gehört hatte. Zwischen den Bäumen durch, über kleinen Häuschen an der Straße, konnte er ein Stück vom ›Wunderberg‹ sehen. Ihm war, als schaute der Berg ihn mit Vorwurf an, dass er von hier auf der Bahn nach Salzburg fahren wollte, und dann so weiter seinem Sohn entgegen, statt ihm, seinem alten Freund, endlich Wort zu halten.

Er setzte sich den Hut wieder auf und sah nachdenkend in sein Glas.

›Ich muss und soll nun doch endlich diesen Weg machen!‹ dachte er. ›Die Hitze, die tut mir nichts. Er wartet auf mich nun schon fünfundzwanzig Jahre. So lange kann ich ihn wohl nicht wieder warten lassen. Geh’ ich noch über Glanegg nach Grödig, so find’ ich da meinen Jungen an der neuen Bahn, und hab’ gegen den Untersberg ein reines Gewissen. Also auf nach Grödig!‹ Die alte Rastlosigkeit, die ihn in der Einsamkeit immer überkam, schnellte ihn empor. Er hatte hier ausruhen wollen, bis die kühleren Stunden kämen; mit der plötzlichen Unruhe eines Jünglings stand er auf, zahlte, hängte sich den Ranzen über die etwas unlustigen Schultern – sie waren an solchen Druck nicht mehr gewöhnt – und verließ den Garten. Als er in die Sonne kam, schüttelte er doch den Kopf. Es war noch mittagsheiß. Die Straße blendete ihn.

Der Himmel war blau wie Stahl. Die Sohlen brannten ein wenig; das von Speise und Trank erregte Blut lag ihm auf den Augen. Es fuhr ihm ein flüchtiges Missvergnügen durch den Kopf, mit einem so ruhelosen Menschen zu tun zu haben, der sich immer wieder plagen müsse und nicht Frieden halte. Dann aber lächelte er, stieß mit dem Stock auf die Erde, summte ein altes Studentenlied, das ihm plötzlich einfiel, und wanderte durch die heißen Straßen des Orts seinem Feldweg zu.

Wittekind war eine kraftvolle, noch schlanke Gestalt von auffallender Größe; sein blondes, ein wenig lockiges Haar ward an den Schläfen grau, die blauen Augen hatten aber das reinste jugendliche Feuer, den fast naiven, aber festen und unternehmenden Blick, der so viele Nordländer auszeichnet, und seine leuchtende, weiße, rosig gebräunte Haut war von großer Frische. Während er ging, wechselte er oft zwischen neugierig lebhaftem Umherschauen und tiefem Sichversinnen; stieß zuweilen einen herzhaften, aber gemütlichen Fluch aus, der der Hitze galt, weidete sich dann wieder mit treuherzigem Lächeln an dem schönen Tag, der so rein, so blau über den Bergen lag, so leise in den gelben Kornfeldern spielte und – was seinem Landmanns-Herzen wohltat – so reichlichen Erntesegen versprach. Von dem Hügel, an dem die letzten und vornehmsten Villen stehen und auf Reichenhall hinunterschauen, sah auch er noch einmal auf das Städtchen zurück, ehe er über die Felder ging; setzte sich auf eine schattige Bank, da ihm das Blut doch gar zu unruhig in den Augen tanzte, und saß eine Weile still. Er schloss sogar die Augen; ›nur auf ein paar Minuten!‹ dachte er. ›Eine kleine Siesta; es war noch zu früh!‹ – Indem er sich zurücklehnte, drückte ihn der Ranzen; er war im Begriff, ihn abzuwerfen; mitten in der Bewegung hielt er aber inne. Ihm fielen die wandernden Handwerksburschen ein, die er so oft beobachtet und in seinem menschenfreundlichen Herzen mitfühlend bedauert hatte. Die schonen sich nicht. Und die wandern anders als du, dachte er; nicht weil das Dreieck um den Untersberg noch nicht fertig ist, sondern weil das Handwerk oder die Not es will. Sollen wir Glücklichen, wir Verzogenen es denn immer besser haben, als die Stiefkinder des Schicksals? Er soll nur drücken, der Ranzen! Heute wenigstens, am Tag eines so ersehnten Wiedersehens, wollte er es nicht besser haben als sie. Er setzte sich aufrecht, um den Ranzen stärker zu spüren, um weniger – auszuruhen. Auf einmal flog, wie ein Vogelschwarm, eine ganze Kette von Erinnerungen vor ihm auf, und mit geschlossenen Augen ließ er sie vorbeiziehen.

Als junger Student, auch so mit dem Ranzen, wanderte er zum ersten Mal dem Untersberg entgegen! Die Welt, das Leben erschien ihm ein Paradies. Dann kamen die schwarzen Wolken, die aus diesem Paradies so oft ein Leichenfeld oder ein Schlachtfeld machen; plötzlich starb der Vater, neben dem stillen, wachsbleichen Gesicht stand die bisher ungekannte Sorge. Der lustige Student ward Landwirt, er übernahm das Gut, den einzigen Besitz, für sich und die Schwestern, verschuldet war und etwas verkommen: denn der gute, hochgesinnte Vater hatte zu sehr in Projekten, Idealen und Phantasien gelebt. Umso ernster packte nun das Leben seinen Sohn.

Nach langen Mühen ward’s licht; eine liebe, zarte, zärtliche Frau kam ins Haus; liebe Kinder dazu. Das Gut, das Vermögen gedieh. Die zarte Frau schwand dahin. Endlich lag sie da, mit stillem, wachsbleichem Gesicht. Die Sorge kam nicht wieder; das Gedeihen blieb; aber das reine Glück der Jugend fand sich nicht wieder ins Haus. Auch die Kinder schwanden ihm wieder dahin, ihrer Mutter nach. Nur dieser eine blieb ihm, der Berthold, der Blondkopf, der heute von Salzburg kam, den er noch vor Nacht ans Vaterherz drücken sollte.

›Seltsam‹, dachte er: ›und diese Freude ist doch nicht vollkommen; es liegt mir eine Art von Nebel ums Herz. Das sind nicht nur die Toten; auch sonst.‹ Eine eigene, weiche Wehmut, die zum Trübsinn ward, beklemmte ihm die Brust; ein Ungenügen am Leben, das ihm zuweilen in das heiterste Glücksgefühl hineindämmerte. Er kannte diesen Feind sehr wohl, aber er gab sich nicht gerne Rechenschaft über ihn. Solche Feinde wachsen, wenn man über sie nachdenkt irgendwo war in seinem Leben eine große Lücke.

Seine Tätigkeit tat ihm wohl, an Leib und Seele, seine Studien aller Art erhoben ihn über die Alltäglichkeit, er liebte das Landleben, die Unabhängigkeit, auch die Einsamkeit; seinem Ehrgeiz winkte die Politik, das Parlament, er brauchte nur zuzugreifen wenn er wollte; sein deutsches Vaterland gedieh unter der Kaiserkrone, wie es seine glühendsten Jünglingsträume ersehnt hatten.

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