«Soll ich sie jetzt wegbringen, Madam?» fragte die Kammerzofe.
«Ja, bring sie hinunter und gib ihr was zu frühstücken», sagte die Königin.
Genau in diesem Moment raschelte es in den Büschen am See.
Und dann war er da!
Acht Meter groß war er. Seinen schwarzen Umhang trug er so elegant wie ein vornehmer Herr. Die dünne Trompete hatte er immer noch in der Hand. So schritt er würdevoll über den königlichen Parkrasen auf das Fenster zu. Die Zofe kreischte. Die Königin seufzte. Und Sophiechen winkte.
Der GuRie ließ sich Zeit. Er sah richtig hoheitsvoll aus beim Näherkommen. Unmittelbar vor dem Fenster, an dem die drei standen, blieb er stehen und machte langsam eine höfliche Verbeugung. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war sein Kopf ziemlich genau auf der Höhe der drei Zuschauerinnen am Fenster.
«Eure Majonese», sagte er. «Ich bin dein verlorsamster Diener.» Dabei verbeugte er sich noch einmal. Dafür, daß sie zum erstenmal in ihrem ganzen Leben einem Riesen begegnete, blieb die Königin erstaunlich gelassen. «Wir sind sehr erfreut, dich zu sehen», sagte sie. Drunten im Garten schob ein Gärtnerbursche seine Schubkarre über den Rasen. Der erblickte links von sich die Beine des GuRie. Entgeistert wanderten seine Augen immer weiter nach oben, den ganzen gewaltigen Körper hinauf. Seine Hände umkrallten krampfhaft die Schubkarrengriffe. Der Mann taumelte. Der Mann stolperte. Und schließlich schlug der Mann der Länge nach hin: bewußtlos. Aber keiner achtete auf ihn.
«Oh, Majonese!» rief der GuRie. «Oh, Königin! Oh, Herrschlerin! Oh, Reichstalerin! Oh, Staatsoberbraut! Oh, getöntes Haupt! Oh, Sultanine! Ich bin mit meiner kleinen Freundin Sophiechen gekommt, und wir wollen dir ein Bein ... eine Bein ...» Der GuRie stockte und suchte nach dem passenden Wort. «Ihr wollt mir ein Bein?» fragte die Königin. «Einen Bein. einen Beinstand leisten», brachte der GuRie dann doch noch heraus und strahlte. Die Königin sah verwirrt aus.
«Manchmal redet er ein bißchen komisch, Euer Majestät», sagte Sophiechen. «Er ist nie zur Schule gegangen.» «Dann müssen wir ihn in eine Schule schicken», sagte die Königin. «Wir haben sehr gute Schulen in unserem Land.»
«Ich muß Eure Majonese ganz riesige Geheimnisse erzählen», sagte der GuRie.
«Ich würde mich sehr freuen, sie zu hören», sagte die Königin. «Aber nicht im Morgenmantel.» «Wünschen Sie angekleidet zu werden, Madam?» fragte die Kammerzofe.
«Habt ihr beiden denn schon gefrühstückt?» fragte die Königin.
« Oh », rief da Sophiechen, «könnten wir etwas kriegen? O ja, bitte, ja! Seit vorgestern habe ich nichts mehr zu essen bekommen!»
«Mein Frühstück», sagte die Königin, «hat leider Mary auf den Boden geworfen.»
Die Kammerzofe mußte schlucken, sagte aber nichts. «Ich denke doch, daß wir hier im Palast noch mehr zu essen haben», sagte die Königin zum GuRie. «Vielleicht würdest du mir gerne Gesellschaft leisten mit deiner kleinen Freundin.»
«Gips etwa Kotzgurke, Majonese?» fragte der GuRie. «Wie bitte?» fragte die Königin. «Stinkige Kotzgurke?» wiederholte der GuRie. «Wovon ist hier bitte die Rede?» fragte die Königin. «Für meine Ohren hört sich das recht unanständig an.» Damit wandte sie sich an die Kammerzofe und sagte ihr: «Mary, laß Frühstück aufdecken für drei Personen, und zwar im ... ich glaube, am besten wohl im Ballsaal. Dort ist die Decke am höchsten.» Zum GuRie sprach sie: «Leider mußt du auf Händen und Knien durch die Tür kriechen. Ich schicke dir jemand, der dir den Weg zeigt.» Der GuRie streckte die Hand aus und holte Sophiechen durchs Fenster nach draußen. «Du und ich lassen jetzt Ma-jonese alleine, damit sie sich ordentlich macht», sagte er. «Nein, laß das kleine Mädchen ruhig bei mir», sagte die Königin. «Wir suchen ihr etwas zum Anziehen. Im Nachthemd kann sie doch nicht frühstücken.» Der GuRie schwenkte Sophiechen wieder zurück in das königliche Schlafgemach.
«Könnten wir wohl Bratwürstchen bekommen, Euer Majestät?» fragte Sophiechen. «Und auch Schinken mit Eiern?»
«Ich denke doch, das läßt sich machen», erwiderte die Königin lächelnd.
«Paß mal auf, wie dir das schmeckt!» sagte Sophiechen zum GuRie. «Von jetzt an gibt es nie wieder Kotzgurke!»
Ein königliches Frühstück
Es gab ein fieberhaftes Gerenne und Getrappel bei der Dienerschaft des Palastes, als der Befehl der Königin bekannt wurde, ein acht Meter langer Riese solle mit Ihrer Majestät im Großen Ballsaal zum Frühstück Platz nehmen, und zwar in einer halben Stunde.
Der Oberhofmeister, eine imponierende Persönlichkeit mit Namen Mister Tibbs, hatte den Oberbefehl über alle Diener bei Hofe, und er tat sein Äußerstes, um in dieser kurzen Spanne Zeit den allerhöchsten Wunsch zu erfüllen. Man steigt nicht auf zum Oberhofmeister der Königin, es sei denn, man verfüge über ein ganz außergewöhnliches Maß an Einfallsreichtum, Vielseitigkeit, Geschmeidigkeit, Geschicklichkeit, Gewitztheit, Kultiviertheit, Weisheit, Diskretheit und einen Haufen anderer -heiten und -keiten, die weder du noch ich besitzen. Mister Tibbs aber besaß sie alle. Er befand sich gerade in der Kantine und schlürfte sein erstes Glas Bier, als der Befehl der Königin bei ihm eintraf. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er im Kopf folgende Berechnungen angestellt: Wenn ein normaler Mann von einsachtzig eine Tischhöhe von knapp einem Meter braucht, dann braucht ein Acht-Meter-Riese einen Tisch von über vier Meter Höhe.
Und wenn ein Mann von einsachtzig einen Stuhl mit sechzig Zentimeter Sitzhöhe benötigt, dann benötigt ein AchtMeter-Riese einen Stuhl mit zweieinhalb Meter Sitzhöhe.
Alles, sagte sich Mister Tibbs, muß man mal vier nehmen.
Aus zwei Frühstückseiern werden acht. Aus vier Scheiben Speck werden sechzehn. Aus drei Scheiben Toastbrot werden zwölf. Und so weiter. Diese oberhofmeisterlichen Berechnungen über den Bedarf an Speisen wurden unverzüglich an Monsieur Papillion durchgegeben, das war der königliche Küchenchef.
Mister Tibbs schwebte in den Großen Ballsaal (Oberhofmeister laufen nicht, sie schweben), gefolgt von einem Heer von Lakaien. Die Lakaien trugen allesamt Kniehosen und darunter glatte Strümpfe über strammen Waden und feinen Knöcheln. Denn wer keine wohlgeformten Fußknöchel hat, kann niemals ein königlicher Lakai werden. Darauf achtet man zuallererst, wenn einer sich um den Posten bewirbt.
«Schiebt den großen Flügel in die Mitte des Saales», hauchte Mister Tibbs. Oberhofmeister reden nicht, sie hauchen.
Vier Lakaien setzten den Flügel in Bewegung. «Und jetzt holt ihr eine große Kommode und setzt sie oben auf dem Flügel ab», hauchte Mister Tibbs. Drei andere Lakaien schleppten eine kostbare alte Mahagoni-Kommode herbei und stellten sie oben auf den Flügel.
«Das wird sein Stuhl», hauchte Mister Tibbs. «Die Sitzhöhe ist exakt zweieinhalb Meter. Als nächstes kommt der Tisch, an dem der Herr bequem frühstücken kann. Holt mir mal vier sehr hohe Standuhren her. Hier im Palast gibt es ja reichlich davon. Jede Standuhr muß vier Meter hoch sein.»
Sechzehn Lakaien durcheilten in Grüppchen den Palast auf der Suche nach den passenden Standuhren. Zu tragen waren die wirklich nicht leicht, für jede brauchte man vier Mann.
«Stellt die vier Standuhren im Rechteck vor dem Flügel auf», hauchte Mister Tibbs. Die Lakaien taten wie befohlen.
«Und nun bringt ihr mir den Tischtennistisch des Prinzen», hauchte Mister Tibbs. Da wurde der Tischtennistisch hereingetragen. «Montiert die Beine ab und bringt sie weg», hauchte Mister Tibbs. Gesagt, getan. «Und nun legt ihr die Tischtennisplatte obendrauf auf die Standuhren», hauchte Mister Tibbs. Dazu mußten die Lakaien auf Trittleitern klettern.
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