»Gut«, entgegnete Fräulein Petra mit verdecktem Blick und mit jenem nachsichtigen Spott, der nur in ihrem Gesicht lag, wenn von Natalie gesprochen wurde.
»Ein ganz köstliches Weibchen«, meinte Drusius und schnalzte mit der Zunge. »Ein Rokoko-Figürchen, ein Sprühgeist. Für dieses Frauchen könnte ich eine Heldentat verrichten.«
Hyrtl sah gelangweilt aus. Seine Augen ruhten schwermütig-messend auf
Anna Borromeo.
»Wie stehen die Montan-Papiere?« fragte ihn Frau Anna lächelnd und tippte mit der Fingerspitze eine Brotkrume von ihrem Kleid.
»Schlecht«, antwortete Hyrtl. »Wir können uns auf einen großen Börsenkrach gefaßt machen.« Er legte den Knöchel des einen Beines auf das Knie des andern, schob die Hose ein wenig hinauf, so daß über den Lackstiefeln ein Stück des violett-seidenen Strumpfes sichtbar wurde, zog mit leichter Gebärde eine goldene Zigarettendose aus der Tasche und fragte mit Höflichkeit die Wirtin, ob er rauchen dürfe. Er blickte dabei Frau Borromeo tief und traurig in die Augen, so daß Arnold sehr erstaunt war, als er die Worte vernahm, die diesen Blick begleiteten. Zugleich sah er, daß Petra Königs Blicke auf ihn selbst gerichtet waren, daß sie die Augen, die einen wärmeren, ruhigeren Glanz angenommen hatten, erschreckt wieder abwandte und mit leerem Lächeln nach einer Bäckerei auf der silbernen Schale griff.
Arnold musterte das Zimmer, die Tapeten, die Teppiche, die Bilder und hörte mehr und mehr erstaunt der schnell von einem Gegenstand zum andern schweifenden Unterhaltung zu. Als er den Tee, dem er sehr viel Milch zugegossen, ausgetrunken hatte, erhob er sich, stellte seinen Stuhl nahe vor den Tisch, dankte und fügte hinzu: »Jetzt will ich mich waschen.« Damit verließ er den Salon mit unbefangenem Gesicht.
Zuerst entstand ein peinliches Schweigen. Dann lächelte Anna Borromeo, darauf lächelte auch Emerich Hyrtl und stemmte die Arme auf die Hüften. Es lächelten auch Drusius und Petra König. Dann blies Hyrtl die Backen auf und verfiel in einen wahren Lachkrampf, aus dem er schließlich die Beteuerung hervorächzte, er habe sich nie so göttlich unterhalten. Anna Borromeo drohte ihm scherzhaft mit dem Finger.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Arnold suchte die ihm zugewiesenen Zimmer auf. Im Vorraum seiner Wohnung stand der Diener und sagte, er erwarte die Befehle des jungen Herrn. »Was für Befehle?« fragte Arnold und blieb stehen. Der Diener lächelte und blickte Arnold aufmerksam an. »Gehn Sie nur«, sagte Arnold und wartete, bis der Mann die Türe geschlossen hatte. Welch ein sonderbarer Aufenthalt, dachte er, als er durch die Zimmer ging und die kostbaren Tapeten besah, die schweren Vorhänge, die Bilder, Vasen, Teppiche, Möbel und Bücher. Er riß das Fenster auf, und es wurde ein wenig heller und frischer. Die Gasse war eng. Er schaute hinab und erstaunte über die Höhe, erstaunte über die Nähe der gegenüberliegenden Häuser und ihre endlosen Reihen von Fenstern, die alle geschlossen waren. Er schaute empor und sah nur ein geringes Stück des abendlich verdämmernden Himmels. Ein Flug Vögel zog mit Kreischen geschwind über die Dächer.
Während dieser Beobachtungen spürte er großen Hunger. Er überlegte nicht lange, nahm den Hut, verließ seine Wohnung, eilte auf die Straße und suchte das nächste Wirtshaus. Bald fand er eine kleine Kutscherkneipe, bestellte Wein, Wurst und Käse und aß mit Appetit. Viele Männer saßen in dem raucherfüllten Raum, schimpften, politisierten, schrien, lachten und spielten. Als Arnold satt war, bezahlte er und ging. Er beschloß, einen Spaziergang durch die Straßen zu unternehmen, aber vorsichtig, wie er war, kehrte er zuerst zurück und prägte genau die Gasse und das Borromeosche Haus seinem Gedächtnis ein. Kaum hatte er dies stille Seitental verlassen, als er im Nu in einen eilenden Menschenstrom geriet. Die Abend-Dunkelheit wurde durch das blendende Licht aus den hohen, weißen Lampen gänzlich zerstreut. Aus allen Läden, aus jedem Fenster der schönen Paläste drang Licht, und die Nacht über den Dächern war wie eine feste Decke. Als Arnold sich inmitten der unabsehbaren, beständig sich erneuernden Menge befand, glaubte er zuerst, das Geräusch, das zu ihm floß, sei ein gleichmäßiges, ängstliches Raunen. Denn es war nicht laut und nicht leise; es war weder Reden noch Schreien. Oft klang es wie minutenlang hintereinander ausgehauchte tiefe Seufzer, oft wie fernes Gelächter; nichts hielt Stand, alles rauschte gleich einem schwerflüssigen Wasser dahin. Arnold ging dicht an der Seite der Häuser und kam nur langsam vorwärts. Er ermüdete nicht, Gesichter zu betrachten; er wurde nicht satt, den Ausdruck der Augen zu erhaschen. Einer blickte vorsichtig und spähend vor sich hin, einer redete gereizt, einer ging müde. Jeder schien eine Maske zu tragen und zwischen unsichtbaren Wänden zu gehen.
Verwirrt, ratlos, wie in einem Rausch, blickte Arnold vor sich hin. Seine Stimme erschien ihm klein, seine Schritte zu kurz, seine Arme machtlos, seine Verstellungen kindlich. Er sah Menschen, Menschen, immer neue Menschen. Doch kein Gesicht war festzuhalten, alle Gesichter verschwammen im Nebel. Ungewöhnlich erregt verließ er die taghellen Straßen und kam in spärlicher beleuchtete, in welchen sein eigener Schatten matt mit dem Dunkel zusammenfloß, und immer wieder auftauchte, wenn er unter der gelben Flamme einer Gaslampe vorüberging. Er dachte nicht mehr an Zweck und Ursache des Weges; mit umfangenen Augen und sonderbar gelähmten Gedanken ging er dahin. Was er sah, schien ihm unglaubhaft, unbegründet und widersinnig. Warum stand Haus an Haus so enggepreßt, daß jedem einzelnen der Atem zu fehlen schien? An der Ecke blieb Arnold stehen und blickte erstaunt die unbewegliche Reihe der Laternen entlang. Ihn lockte es, das Ende kennen zu lernen, und ohne den Gedanken an Rückkehr folgte er der Flucht jeder Gasse und Straße und glaubte bei jedem neuen Anfang, nun müsse sich bald der Wald öffnen oder das Wiesenland dehnen. Aber jedesmal wurde diese Erwartung zerstört und sein Erstaunen wurde größer und dumpfer, insbesondere durch die Wahrnehmung, daß die endlosen Häusermassen ihn nicht nur in der Richtung seines Weges begleiteten, sondern auch nach allen Seiten hin ausströmten. Er betrachtete die Aushängeschilder von Krämern, Wirtshäusern und den zahllosen Geschäften, in denen er zufriedene und glückliche Menschen vermutete, getäuscht durch den Lichterglanz und die Buntheit der Auslagen. Er blieb vor den erleuchteten Fenstern der Kaffeehäuser stehen und blickte ratlos hinein, da ihm ihr Inneres wie zu einem Feste geschmückt vorkam. Er sah mächtige Gebäude, die einem unbekannten feierlichen Zweck dienen mußten, Kirchen, deren eherne Tore geschlossen waren, und von deren Türmen dennoch Glockengeläute erklang. Überall hatte er den Eindruck der Ruhe, der Ordnung und der Gerechtigkeit und hundertmal schüttelte er über sich selbst den Kopf und war unzufrieden, ohne zu wissen warum. Noch nie hatte er solch ein Gefühl lustloser Ermüdung gespürt. Doch er setzte seinen Weg fort und kam in eine öde Vorstadt mit ausgestorbenen Gassen. Hier wurden die Häuser niedriger und der Himmel schien infolgedessen näher. In den erdgeschössigen Wohnungen sah er Familien beim Abendessen sitzen, aus den Kneipen drang Lärm und Geschrei, Dirnen gingen vorüber und lächelten ihm zu; jeder einzelne Laut und jedes Bild erzeugte in Arnold die betäubende Empfindung der Vielfältigkeit und der unübersehbaren Weite. Mit Bitterkeit, ja fast mit Angst fühlte er seinen gänzlichen Mangel an Erfahrung. Er glaubte sich verachten zu müssen. Herrgott, sagte er zu sich selbst, das kann übel enden, und plötzlich drehte er sich um und trat mit stürmischem Wesen die Rückkehr an, auf welcher er einige begegnende Personen höflich und zaghaft nach dem Weg befragte.
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