Nach stundenlangem Gehen fand er sich endlich zurecht und kam gegen zehn Uhr nach Haus. Der Diener begleitete ihn in sein Zimmer, zündete die Lampen an und fragte, ob nichts zu besorgen sei. Arnold schüttelte den Kopf. Er sah seinen Reisekoffer vor sich stehen und ohne einen der prächtigen Stühle rings zu benutzen, setzte er sich rittlings darauf und versuchte nachzudenken. Es war ihm, als hielte er sein Herz in der Hand, drehe es hin und her, aber es war stumm. Plötzlich sah er viele Wege; jeder führte dorthin, wo man mühelos Gerechtigkeit erlangte. War es denn etwas so Großes, diese Gerechtigkeit? so vielen Zorns, so vieler Gedanken wert? Arnold schämte sich und kam sich vor wie jemand, der mit Pferd und Wagen kommt, um eine Maus aufzuladen. Sein Vorhaben erschien ihm leicht und selbstverständlich. Er begann vor sich hinzupfeifen, als es an der Tür pochte; Friedrich Borromeo trat ein.
»Guten Abend, Arnold,« sagte er in seiner gemessenen Sprechweise, »hast du dich schon ein wenig zurechtgefunden?« Vorsichtig hob er mit der äußeren Seite der Hand seinen Bart empor und legte den Kopf gegen die Schulter.
Arnold trat vor ihn hin. »Zurechtgefunden? Nein, Onkel. Zurechtfinden kann ich mich hier nicht. Also sage mir, was soll ich tun? Wie soll ich’s anfangen?«
»Ei, ei, so ungestüm,« erwiderte Borromeo. Er gab es endlich auf, seinen Bart zu bestreichen, schritt zum Tisch, setzte sich auf einen der Polstersessel und nahm ein elfenbeinernes Papiermesser, das er lose zwischen den Mittelfingern beider Hände behielt. »Du willst also dieser eingesperrten Jüdin zur Freiheit verhelfen,« sagte er mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Ich verstehe deine Beweggründe. Du bist jung. Du bist begeistert. Du kannst dich noch entrüsten. Schön. Aber was willst du allein ausrichten? Ein Feldherr, der keine Truppen hat, kann keine Schlacht gewinnen. Ich will dich ja nicht von deinem idealen Unternehmen abbringen, ganz im Gegenteil.«
»Würde dir auch nichts nützen,« warf Arnold trocken und etwas ungeduldig dazwischen.
»Schön. Aber betrachten wir die Sache einmal von einem andern Standpunkt, von einem praktischen sozusagen. Zufällig war es diese Klostergeschichte, die dich in Aufruhr gebracht hat. Es hätten Millionen andere sein können. Nehmen wir nur unser Land, ja nehmen wir nur einmal Galizien. Die Regierung dort ist verrottet. Alle Gewerbe liegen auf den Tod. Die Mitglieder der Geburts- und Geld-Aristokratie verüben die ungeheuerlichsten Diebstähle. Der Wucher blüht wie anderswo im Mittelalter. Die Länderbank ist verkracht, weil ein Fürst und ein Graf sie durch Betrügereien ins Verderben gestürzt haben. Hast du von den Cziriskawer Gruben gehört? Die hungernden Arbeiter mußten zusehen, wie die Aktionäre einander und der Direktor die Aktionäre um Tausende von Gulden bestahlen. Eine Million Notstandsgelder für die in Krankheit und Hunger vegetierenden Bauern werden zurückgehalten; auf den großen Gütern wird der Arbeitslohn in Pappendeckelstücken statt in Geld ausgezahlt. Was ist dagegen deine Klostergefangene? Urteile selbst. Schau dich nur um. Es gibt viel zu tun. Lerne, damit du siehst, wo du anzufangen hast. Du darfst dich nicht verwirren. Ich werde niemals deinem Willen entgegentreten. Ich werde nie fragen, ob das auch gut ist, was du tust, sondern immer annehmen, daß es das beste ist. Ich lasse dir freie Verfügung über dein Vermögen, deine Zeit, deine Person. Aber lerne erst erkennen, wo du Hand anzulegen hast. Wir brauchen Menschen, wir brauchen Männer; aber in dieser Zeit, in diesem heruntergekommenen Land bedarf es nicht nur eines ganzen Menschen, einer großen Leidenschaft, einer reinen Seele, sondern auch eines aufs höchste gebildeten, praktischen Geistes. Erfahrungen braucht es und Kultur. Das ist eben die Probe, Arnold, in der du dich bewähren mußt. Äußerlich mußt du sein wie alle andern, mußt dich kleiden wie sie, mußt ihre Formen und Gebräuche annehmen; aber deine Hand muß sauber bleiben, deine Seele rein. Und trotz alledem mußt du dich durchkämpfen, hinaufkämpfen. Das ist das Problem. Dann wird es dir ein Leichtes sein, eine Jutta Elasser zu befreien. Heute ist es unmöglich für dich wie für jeden andern. Du hättest keine andern Wege als jene Leute selbst, du würdest nirgends eine werktätige Hilfe finden. Und deine Kräfte ins Phantastische hinein verschwenden, das wäre doch sinnlos.«
Arnold saß weitvorgebeugt auf seinem Koffer und ein kühler Schauder fuhr ihm über die Haut. Er fühlte Zorn und Rührung. Er begriff und wollte sich dennoch verschließen. Er sah ein, daß das alles seine Richtigkeit hatte und wünschte doch, es nicht gehört zu haben.
»Wenn ich mir erlauben darf, dir ein Programm aufzustellen,« fuhr Borromeo fort, »so wäre es dies: fange an, dich über alles mögliche zu unterrichten. Belehre dich. Halte dich an die Bücher und an gescheite Menschen. Bereite dich für ein Amt vor. Eine Regelmäßigkeit wird sich dir bald von selbst ergeben, vielleicht auch der Beistand eines Freundes. Du hast alle Gaben, um zu einem schönen Ziel zu gelangen. Der unerschütterliche Wille besiegt jedes Hindernis. Und um mit zwei Worten noch einmal alles zu sagen: Bleib und werde!«
Es war deutlich zu sehen, wie schwer es Borromeo ums Reden wurde, denn er schwieg jetzt mit einem erleichterten und müden Gesicht und ließ den Blick langsam von dem Elfenbeinmesser aufwärts gegen das Licht schweifen. Arnold hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und sein Gesicht verborgen. Was in ihm kämpfte und brauste, das ahnte Borromeo und das liebte er an ihm. Er stand auf, ging hin und legte Arnold die Hand auf die Schulter. »Nun?« fragte er leicht und kurz.
Arnold erhob den Blick und schnellte von seinem Sitz empor. Seine Wangen glühten. »Man kann das eine tun und braucht das andre nicht zu lassen«, sagte er. »Man kann beides tun.«
»O gewiß, man kann beides tun«, antwortete Borromeo. »Insofern keine Gefahr ist, daß man sich verzettelt. Gewiß. Die Erfahrung wird darin dein bester Lehrmeister sein. Wenigstens sehe ich, daß du nicht verstockt bist. Von den Idealisten ohne Kopf hab ich nie etwas gehalten. Sie schaden mehr als sie nützen. Gute Nacht, Arnold.«
Sie gaben einander die Hand.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Arnold war zu Borromeos Schneider gegangen. Zwei Tage später war er im Besitz von vier modischen Anzügen; das Zubehör an Wäsche war vorher besorgt worden. Zaudernd und umständlich bekleidete sich Arnold mit den neuen Dingen. Verlegen stand er vor dem Spiegel und blickte an seinem Bild herab wie an einem fremden Mann. Aha, redete er sich selbst an, da wärst du also, lieber Bruder, siehst immerhin merkwürdig aus, wie der Gevatter beim Hochzeitsfest. Er verzog das Gesicht und konnte sich lange nicht entschließen, das Zimmer zu verlassen, obwohl er noch am Morgen zur öffentlichen Bibliothek wollte. Als es überwunden war und er mit ungewohnter Langsamkeit die Treppen hinunter schritt, sah er im Korridor Anna Borromeo mit einer andern Dame plaudernd beisammen stehen. Frau Anna winkte ihm und sagte zugleich zu der Fremden: »Dies ist mein Neffe, Herr Ansorge.« Arnold blieb stehen, Anna Borromeo wies auf die fremde Dame und sagte: »Frau Natalie Osterburg.« Arnold reichte sofort nach seiner Gewohnheit die Hand und verspürte eine andere Hand, deren Winzigkeit ihn verblüffte. Die Frau lachte und schrie vor Schmerz, er möge sie loslassen; Anna Borromeo lächelte.
»Also das sind Sie!« sagte Natalie Osterburg, und das neugierige Kindergesichtchen hinter dem schwarzen Schleier blieb Arnold fragend zugewandt. »Petra hat mir von ihm erzählt, aber ich finde, er ist ganz hübsch.« Ein köstliches Aber.
Arnold fühlte sich zu der neuen Bekannten hingezogen, weshalb er ohne weiteres sein Kommen versprach, als sie ihn um seinen Besuch bat und Tag und Stunde bezeichnete. Sie sagte noch einiges zu Anna Borromeo, was wie das Geplätscher eines Springbrunnens klang, lachte, fragte mit kindlichem Ernst nach gleichgültigen Dingen, war unglücklich über das drohende Regenwetter, sagte, sie habe die größte Eile nach Hause zu kommen, vergaß es jedoch sogleich und fragte Arnold, ob er reiten könne. »Ich habe Sie mir als eine Art wilden Jäger vorgestellt, denken Sie nur, wie komisch«, meinte sie und lachend beugte sie den Oberkörper vor. Darauf verabschiedete sie sich und Frau Borromeo schien sehr erleichtert, als sie ging; Arnold beobachtete es an dem versteckten Spiel der Augen und ihn verdroß das liebenswürdige Lächeln, das Hinabbeugen über die Treppenbrüstung, das Winken mit der Hand, womit Anna Borromeo ihrem Gast das Geleit gab.
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