Beverly warf ihren Mantel über und wagte trotz des leichten Nieselregens einen Morgenspaziergang durch das verschlafene Dorf. Es dämmerte, aber der wolkenverhangene Himmel schien das langsam aufkeimende Tageslicht zu verschlucken. Sie bog in einen schmalen Weg, den sie als Kind oft gegangen war, ließ die Häuser hinter sich und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Warum konnte Peggy sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie hatte doch das Leben, das sie sich gewünscht hatte, ein Haus und einen netten Mann. Na ja, das Geld floss nicht gerade in Strömen, und eigentlich hatte sie schon immer vom sozialen Aufstieg geträumt. Aber den gab es nun einmal nicht, wenn man um alles in der Welt in Aldermaston bleiben wollte. Immer wenn Peggy über verpasste Chancen nachdachte, war Robert schuld, er hatte keinen Ehrgeiz, war zu genügsam, er war zufrieden mit seiner Arbeit und seinem Leben, ... und er war zeugungsunfähig. Das allerdings hatte Peggy schon vor ihrer Hochzeit gewusst. Dann, als mit den Jahren ihr Wunsch nach einem Kind immer stärker wurde, zog Peggy den Kreis aus Missgunst und Unzufriedenheit immer enger um sich selbst. Wen wunderte es da, dass sie immer unglücklicher wurde?
Der Regen wurde stärker, deshalb trat Beverly den Rückweg an. Sie konnte ihrer Schwester nicht helfen, sie selbst war ja der Grundstein aller Probleme. Ohne besondere Berechtigung hatte sie sich vor neunundzwanzig Jahren in die traute Zweisamkeit von Mutter und Tochter gedrängt, hatte Peggy gezwungen, ihre geliebte Mutter mit jemand anderem zu teilen. Peggy würde es nie akzeptieren, niemals würde sie zugeben, dass Beverly das gleiche Recht auf ihre Mutter hatte wie sie selbst. „Du bist nur das Ergebnis einer abscheulichen Nacht. Weiter nichts.“ Diesen Satz wurde Beverly nicht wieder los, seit Peggy ihn im Streit und mit dem Brustton fester Überzeugung ausgesprochen hatte.
Es schien, als hätten sich mit den dunklen Gedankengängen auch die schwarzen Wolken vollends geöffnet. Es goss Bindfäden. Beverly rannte das letzte Stück zum Haus, erreichte die schmale Überdachung der Haustür, klingelte und lehnte sich prustend an die Wand.
Robert öffnete. „Ich hab dich laufen sehen. Hohe Luftfeuchtigkeit“, grinste er und warf ihr ein Handtuch zu. „Ich hab uns ein erstklassiges Frühstück gemacht.“
Beverly zog den tropfnassen Mantel aus und frottierte ihr Haar. „Na fantastisch, das ist genau das, was ich jetzt brauche. ... Hat Peggy sich beruhigt?“
Robert seufzte, die Antwort lag klarer in der Luft, als er sie hätte aussprechen können.
„Mm. Keine Panik. Nach dem Frühstück seid ihr mich wieder los.“
„Meinetwegen kannst du auch länger bleiben. Das weißt du hoffentlich?“
„Ja, Robert.“ Sie lächelte. „Aber ich wollte sowieso zeitig zurück.“
Melinda trat in den Flur und fuhr ihrer Tochter mit den Fingern durch das nasse Haar. „Bevy, warum bist du immer so unvernünftig? Du holst dir noch eine Lungenentzündung.“ Ihre Mutter musterte sie besorgt.
„Ist sie doch selbst schuld. Du weißt doch genau, dass sie immer nur macht, was sie will“, giftete Peggy, die in einem türkisen Jogginganzug die Treppe herunterkam.
„Wollt ihr streiten oder frühstücken?“ Robert runzelte die Stirn, er betrat das Esszimmer wo er sich setzte. Die drei Frauen folgten ihm.
„Du solltest deine Haare schneiden lassen“, brachte Melinda mit einem Seufzer hervor. „Männer denken doch immer … langhaarige Frauen sind leicht zu haben.“
„Nicht wieder das Thema“, stöhnte Beverly.
Peggy zog die gemalten Augenbrauen hoch. „Die kriegt doch nie einen ab. Dafür ist unsere Prinzessin viel zu anspruchsvoll.“
Robert schaute auf, er lächelte Beverly zu. „Lass dir bloß nichts einreden. Deine Haare sind toll so. Wäre schade um jeden Zentimeter.“
„Robert“, zischte Peggy zurück, „würdest du zur Abwechslung mal zu mir halten?“
„Ich habe keine Lust zu streiten“, entgegnete Beverly, doch sie erkannte an Peggys Blick, dass sie ihr Pulver noch nicht verschossen hatte.
„Du weißt ja hoffentlich, was du Mum damit antust. Nicht eine Nacht schläft sie durch, weil sie ständig Angst um dich hat. Aber Hauptsache, du hast, was du willst.“
„Peggy, ich könnte ebenso gut auf dem Weg zum Supermarkt von einem Bus überfahren werden. Das Leben ist nun mal nicht kalkulierbar.“
„Nein, sicher nicht. Man sollte die Gefahr aber nicht herausfordern. Frauen bei der Polizei. So ein Schwachsinn. Aber das ist typisch für dich. Dein Egoismus ist unerträglich. Irgendwann bringst du Mum noch ins Grab.“ Sie warf ihre Gabel auf den Tisch, sprang auf und verließ das Esszimmer ohne ein weiteres Wort.
Die Straße schlängelte sich vor Beverly wie ein dunkler Fluss. Nach dem Frühstück hatte sie gepackt und sich verabschiedet. Peggy hatte es nicht für nötig befunden, sich noch einmal sehen zu lassen. Ein weiteres Kapitel in der Geschichte ihrer schwesterlichen Auseinandersetzungen war geschrieben.
Whitefield schniefte in sein großes kariertes Taschentuch, während Stanton mit einer Kanne Tee von Tasse zu Tasse balancierte. Sands saß neben Henderson, Fleming hatte ein Skript vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Beverly betrat das Büro direkt nach Miller und sie konnte seinen hochprozentigen Atem riechen. Er setzte sich etwas abseits und warf einen leicht nervösen Blick zu Sands hinüber. Millers Hemd hing zerknittert über der Hose, sein Sakko war fleckig. Sein Gesicht wirkte sowohl ungewaschen als auch unrasiert, das dunkle Haar klebte fettig am Kopf. Es war offensichtlich, dass er die letzte Nacht nicht zu Hause bei seiner Frau verbracht hatte. Hatte sie ihn womöglich vor die Tür gesetzt? Miller schien sich im Mittelpunkt der Blicke plötzlich seines Zustandes bewusst zu werden und erhob sich wieder. „Bin gleich wieder da“, warf er erklärend in die Runde und ging hastig zur Tür. Der Geruch von Whisky blieb im Büro hängen, und Beverly war sich sicher, dass jeder der Anwesenden es roch.
„Wir fangen an“, gab Whitefield in die Runde, ohne einen Kommentar zu Millers Auftritt abzugeben. „Fleming hat sich in den Falls reingekniet. Wir hören uns mal an, was er zu bieten hat.“
„Ich habe mich, soweit es mir anhand der Unterlagen möglich war, mit den Persönlichkeitsprofilen der beiden Tatverdächtigen befasst“, begann der Psychologe. „Ich bin zu dem vorläufigen Schluss gekommen, dass Timothy St. Williams mit hoher Wahrscheinlichkeit unser Täter sein wird. Daraus ergeben sich für die laufenden Ermittlungen andere Prioritäten.“ Er griff nach einem grauen Hefter, der neben seiner losen Blattsammlung lag, und schob sich die Lesebrille auf die Nase.
„Woraus schließen Sie, dass Harwood als Täter nicht in Frage kommt?“, warf Sands ein.
Fleming blickte ihn irritiert an. „Aus den Persönlichkeitsprofilen“, entgegnete er und Beverly bemerkte einen Anflug von Ungeduld in seiner Stimme..
„Das ist mir zu ungenau. Mich interessiert, welche Überlegungen Sie zu diesem Schluss kommen lassen“, hakte Sands noch einmal nach.
„Ich finde den Verlauf der Kindheit in beiden Fällen sehr aussagekräftig. Timothy St. Williams hat nie eine gehabt und ganze siebzehn Jahre lang die Hölle durchlebt. Sämtliche Phasen der kindlichen Entwicklung waren von Zwang, Angst und Lieblosigkeit geprägt. Ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt, das eine solche Verwundung heilen lässt. Maggie Hunter hat sich während ihrer Zeit in West Bromwich vermutlich besonders um ihn bemüht. Sicherlich hat sie das auch in der Zeit getan, als er bei ihr lebte. Wir wissen jedoch nicht, wie lange er bei ihr war. Auch wenn sie sich um ihn gekümmert hat, auch wenn sie versucht hat, ihm das zu vermitteln, was er nie hatte, sie hatte keine Chance, all das aufzuholen. Nach siebzehn Jahren, die er einem solchen Drill ausgesetzt war, kann man davon ausgehen, das sich das Trauma irreparabel in seiner Persönlichkeit manifestiert hat. Es hat den Jungen von klein auf geprägt. Er hatte kaum menschliche Beziehungen und keinen Kontakt zur Außenwelt. Sein gesamtes Empfindungsspektrum liegt vermutlich im negativen Bereich. Als Timothy seine Mutter angriff, agierte er zum ersten Mal Aggression aus. Es war ein ungeplanter, höchst effektiver Befreiungsschlag für ihn. Wenn er später keine anderen Möglichkeiten gefunden hat, mit Schwierigkeiten umzugehen, und dies sein einziger Weg ist, ausweglosen Situationen zu begegnen, dann ist er vermutlich unser Täter. Genau genug?“ Fleming brachte die letzten beiden Worte mit einem provokanten Unterton über die Lippen und blickte Sands herausfordernd ins Gesicht.
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