„Schwul“, raunte Miller nachdem Fleming das Büro verlassen hatte.
„Unsere Ermittlungen stecken fest. Die Spuren der Tatverdächtigen …“ Whitefield runzelte die Stirn; mit der rechten Hand hob er eine Mappe vom Tisch auf. „St. Williams scheint untergetaucht zu sein. Na ja, vielleicht unter anderem Namen. Dieser Daniel Harwood … ich denke mal, dass die Behörden ihn geschützt haben … damit er Ruhe hat. Damit die Pflegefamilie nicht belästigt wird. Sie wissen schon.“ Whitefield wirkte abgearbeitet, sein graues Haar war im Neonlicht beinahe weiß. Seine Wangen hingen schlaff herab, die Falten um seinen Mund schienen sich in den letzten Tagen noch tiefer eingegraben zu haben. Zwei ungelöste Fälle und die Tatsache, dass es vor zwanzig Monaten einen riesigen Pressetumult gegeben hatte, das musste wie ein Felsbrocken auf ihm lasten. „Ich will Informationen über jedes wichtige Detail, und das sofort. Und ich will Ergebnisse, verdammt noch mal.“ Alle im Raum sahen den Superintendent an. Es war eindeutig, dass er Druck von oben bekommen hatte und unschwer zu erkennen, dass er ihn jetzt ungefiltert an das Ermittlerteam weitergab. B
everly seufzte leise. Was sonst sollte er auch tun? Sie waren, von Miller vielleicht abgesehen, alle motiviert an diesen Fall herangegangen, aber der Stillstand zehrte an den Reserven.
„Ran jetzt“, hob Whitefield ein letztes Mal an.
Niemand sprach ein Wort, als sie sein Büro verließen.
„Nun“, begann Daniel Fleming, „dann bringen Sie mich mal auf den neuesten Stand der Dinge.“ Der Psychologe hatte sich Beverly gegenüber hingesetzt; sie war fasziniert von seiner Ausstrahlung. Niemals vorher hatte sie solche Augen gesehen, strahlend aber dennoch voller Melancholie. Sein dunkelblondes Haar war kurz geschnitten und ein wenig verwuschelt. Es gab seinem Äußeren etwas Verwegenes. Seine Gesichtszüge waren wie das Werk eines Bildhauers, klassisch schön. Vermutlich war sein dunkler Anzug maßgeschneidert. Doch eines gefiel Beverly besonders gut an diesem Mann: Er trug keinen Ring.
„Wir ermitteln in zwei Mordfällen. … Die Recherchen haben uns bis ins Jahr 1963 zurückgebracht.“ Beverly berichtete über alle Anhaltspunkte, die bisher von den Kollegen zusammengetragen wurden, legte die Ergebnisse der Gerichtsmedizin vor, zeigte Fotos der Opfer. Sie erläuterte die Vermutungen, die hinsichtlich der möglichen Täter aufgekommen waren, und begründete das Für und Wider ihrer Theorien. Fleming lauschte ihren Ausführungen und immer wieder fühlte sich Beverly von seinem Blick seltsam berührt. „Inzwischen sind wir an einem Punkt angekommen, der nicht mehr viel hergibt“, schloss sie und schaute ihn abwartend an.
Er zog die Augenbrauen hoch und atmete hörbar ein. Rein optisch, befand Beverly, war dieser Mann ein Volltreffer. Ob er Victor auch fachlich das Wasser reichen konnte, das bezweifelte sie. Allein beim Klang des Wortes Institut, schwebte Beverly der Gedanke an staubtrockene Theorie im Kopf, nichts, das mit der Realität zu tun hatte. Außerdem hatte er, das stand für sie von vornherein fest, keinen blassen Schimmer von Polizeiarbeit, von den Strukturen und den ungeschriebenen Gesetzen. Victor würde zurück sein, bevor sich dieser Fleming überhaupt halbwegs eingearbeitet hatte.
„Sie warten aber jetzt nicht darauf, dass ich hier auf der Stelle den ultimativen Geistesblitz liefere?“, holte er sie aus ihren Gedanken.
Sie lächelte. „Was sonst?“
„Ein wenig Einarbeitungszeit müssen Sie mir zubilligen.“
„War ein Scherz!“
„Sie arbeiten schon länger hier?“ „Ja“, sie hielt kurz inne, „es sind inzwischen vier Jahre.“
„Sie wirken ziemlich abgeklärt“, stellte er fest und fixierte sie mit seinen dunklen Augen.
„Das war kein Kompliment.“ Sie konnte keine Reaktion in seiner Mimik lesen, spürte gerade deshalb das Bedürfnis sich zu erklären. „Das ist Selbstschutz. Das müssten Sie doch wissen!“
„Ja, in der Tat. Kann ich die Unterlagen noch einmal in Ruhe durchsehen?“
Beverly stapelte die Dossiers und reichte sie ihm. Er schob sich eine Lesebrille auf die Nase; sie betrachtete ihn. Die Vorstellung, ihm die Brille wieder abzunehmen, um ihn zu küssen. … aber warum hatte sie plötzlich das wirklich alberne Gefühl, sie würde Sands betrügen? Sie seufzte.
Sie ließ Fleming in dem kleinen Büro allein, weil er sich entschieden hatte, die Akten gleich hier und auf der Stelle durchzuarbeiten. Verdammt, wieso kam sie von dem Gedanken an Sands nicht los? Er war verheiratet. Er hatte ihr nicht ein einziges Mal einen Anlass zu der Hoffnung gegeben, sie hätte eine Chance bei ihm. Und du, Evans, bist trotzdem hoffnungslos in ihn ... Vergiss es endlich! Ja, sie wollte einen Mann an ihrer Seite, aber einen Mann der ihre Gefühle erwiderte. War nicht gerade Sands derjenige, der diese Sehnsucht nie erfüllen würde? Warum übte er einen so unwiderstehlichen Reiz auf sie aus? Wenn sie ernsthaft daran dachte, eine überlebensfähige Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen, dann musste sie lernen, die Gefühle für Harold Sands endlich hinter sich zu lassen. Ihr Privatleben hatte sich auf Belanglosigkeiten reduziert, sie arbeitete lieber, als sich der Einsamkeit ihrer Wohnung zu stellen, als sich dort mit der Frage zu beschäftigen, warum sie sich immer die falschen Männer aussuchte. Wollte sie ernsthaft so weitermachen? Es hätte so einfach sein können. Sie brauchte es nur zuzulassen.
Es war Dienstschluss; das Unbehagen, das sich in Form des Wochenendes genähert hatte, war jetzt unabwendbar da. Beverly hatte ihrer Mutter versprochen, dieses Wochenende bei ihr in Aldermaston zu verbringen, aber sie bereute es schon jetzt. Während sie ihre Reisetasche packte, grübelte sie über passende Ausreden nach, vielleicht sollte sie sich einfach krank ins Bett legen. Sie schminkte sich und sah dabei das Schuldbewusstsein in den grünen Augen. Sie hatte versprochen zu kommen, ihre Mutter hatte Geburtstag.
Aldermaston war ein kleiner Ort, etwa fünfzig Kilometer westlich von London. Sie erinnerte sich daran, wie frei sie sich gefühlt hatte, als sie die provinzielle Enge endlich hatte verlassen können. Besonders heute spürte sie, wie bedrückend es war, dorthin zurückzukehren. Stell dich nicht so an, Beverly, es ist ja nur für eine Nacht. Sie warf die Tasche in den Wagen und machte sich im verebbenden Tageslicht auf den Weg. Sie verließ die beleuchteten Straßen und fuhr hinaus in die Dunkelheit. Was hatte dieser Fleming gesagt? Abgeklärt? Pah, was wusste er denn schon von ihr? Ja, sie war froh, wenn es ihr gelang, die grausamen Bilder verdrängen zu können, wenn sie nicht ständig darüber nachdenken musste. Sie war froh darüber, wenn sie einen kühlen Kopf bewahren konnte. Kühl, nicht kalt, denn es war immer noch die Bereitschaft da, Mitgefühl zuzulassen. Zumindest sich selbst gegenüber konnte sie zugeben, dass es oft wehtat. Was wusste schon dieser Daniel Fleming! Peggy Brown war eine hagere, hochgewachsene Frau Anfang vierzig, deren verkniffener schmaler Mund und die restlos weggezupften Augenbrauen sie wesentlich älter wirken ließen. Ihre blassgrünen Augen wirkten tonlos und matt, das kurze rote Haar kräuselte sich wie eine Pudelfrisur um das blasse Gesicht. Sie trug einen geblümten Rock, der die Knie bedeckte, dazu eine schlichte weiße Bluse. Förmlich reichte sie Beverly die Hand, ihre schmalen Lippen versuchten ein Lächeln. „Hallo Bevy-Baby, immer noch solo?“ „Hallo, Peggy.“ Beverly schob sich mit ihrer Tasche durch den engen Flur und stellte sie auf die Treppe. „Wo ist Mum?“ „In der Küche, wie immer.“ Peggy drängte sich an ihrer jüngeren Schwester vorbei und öffnete die abgeblätterte weiße Tür an der Stirnseite des Flures. „Mum, Bevy ist da.“
Mrs. Evans hätte nicht leugnen können, dass Peggy ihre Tochter war. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Mit Beverly hatte sie, wenn man von den kupferroten Haaren und den grünen Augen einmal absah, nichts gemein. Melinda Evans Statur war von Arbeit gebückt, ihr Gesicht von Falten durchzogen und genauso verkniffen wie das ihrer ältesten Tochter. Ein Großteil ihres kurzgeschnittenen Haares war ergraut. Sie drehte sich zu Beverly um. „Hallo, Kind. Bring deine Sachen rauf.“ Wortkarg wie sie war, wandte sie sich wieder dem Herd zu.
Читать дальше