Der Blonde flüsterte seinem aufgeblasenen Freund etwas ins Ohr, woraufhin dieser Moses einen letzten, verächtlichen Blick zuwarf. Dann drängten sich die beiden an ihm vorbei auf die Straße.
Moses schüttelte den Kopf und starrte für einen Moment auf die zerbeulten Briefkästen, von denen gut die Hälfte offen standen. Die fremdländischen, mit Tesafilm aufgeklebten Namen daran ließen erahnen, dass in diesem Wohnblock praktisch die ganze Welt zu Hause war. Ein nach Urin und Reinigungsmitteln riechender Mikrokosmos. Voll von ethnischen und kulturellen Gräben und umgeben von einer unsichtbaren, kaum überwindbaren sozialen Mauer. Kein Wunder, dass die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, zu tickenden Zeitbomben heranwuchsen. Er dachte unweigerlich an Helwig, die in einer ähnlichen Umgebung aufgewachsen war. Es war erstaunlich, dass sie es geschafft hatte, diese Mauer zu überwinden.
Da er dem zerkratzten Fahrstuhl nicht traute, entschied sich Moses für die Treppe. Im ersten Stock wummerte irgendwo hinter den verschlossenen Türen der Sound eines Computerspiels. Maschinengewehrsalven und Detonationen verwandelten das Treppenhaus in ein imaginäres Schlachtfeld. Woran sich niemand zu stören schien. In der dritten Etage angekommen, bog er in den rechten Teil des Hausflurs und war schnell am Ziel.
Moses schlug mit der flachen Hand dreimal gegen die Wohnungstür. Nach einer kurzen Pause schlug er noch ein weiteres Mal dagegen. Während er wartete, schrie in dem Apartment gegenüber eine Frau in einer Sprache, die er nicht identifizieren konnte. Im Hintergrund lief offenbar der Fernseher, dann gab es plötzlich einen Rums, als wäre ein Schrank umgefallen. Sekunden später ging die Tür auf. Ein hohlwangiger Mann in einem gestreiften Pyjama kam aus der Wohnung und schlurfte wortlos an ihm vorbei. Moses fragte sich, ob der Mann ihn überhaupt bemerkt hatte. Er hob die Hand, um erneut gegen die Tür zu hämmern, als sie mit einem Mal aufgerissen wurde.
Im Türrahmen stand ein Hüne mit schulterlanger, platinblonder Dauerwelle und der Figur eines gealterten Boxers, der nicht mehr trainierte. Sein roter Bademantel hing offen über der stark behaarten Brust, zu Moses’ Erleichterung trug er immerhin eine Jogginghose. Das breite Gesicht des Mannes war komplett mit einer weißen Paste beschmiert.
»Shit!«, entfuhr es Reimann, als er Moses erkannte. Dann drehte er sich um und verschwand in der Wohnung. Moses folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Das kleine Apartment hatte sich nicht verändert. Es war sauber und aufgeräumt, die Einrichtung noch immer gewöhnungsbedürftig. Die Leopardenkissen auf dem lachsfarbenen Sofa und das viele Gold trafen nicht unbedingt Moses’ Geschmack. Ebenso wenig wie das gerahmte Poster der New Yorker Skyline, das es irgendwie in dieses Zeitalter geschafft hatte.
»Was wollen Sie?«, rief ihm Reimann aus dem angrenzenden Badezimmer zu, wo er den Wasserhahn aufdrehte. »Ich habe keine Zeit. Ich kann meine Kunden nicht warten lassen.«
Bernd Reimann, auch »Bulle« genannt, war in Kiez-Kreisen eine lebende Legende. Seinen Spitznamen hatte er sich in jungen Jahren im Boxring der Ritze verdient, und es gab Zeiten, in denen er unter anderem ein Bordell am Hans-Albers-Platz besessen hatte. Heute bot der in die Jahre gekommene Exzuhälter zahlungskräftigen Touristen private Führungen über die Reeperbahn an. Von soft bis hart, je nach Wunsch und Geldbeutel.
»Sie haben Kunden?«, fragte Moses, während er die beachtliche Glasfigurensammlung auf dem Sideboard begutachtete. »Um diese Tageszeit?«
Dem Plätschern nach zu urteilen, wusch sich Reimann das Gesicht. »Vorher gibt es noch eine Stadtrundfahrt«, rief er dann. »Und anschließend ein Candle-Light-Dinner! Ich …«, seine Stimme verlor sich kurz im Handtuch, »… neu im Extrapaket!«
Reimann kam aus dem Bad und grinste breit. »Die Konkurrenz schläft nicht. Ein Unternehmer wie ich muss innovativ sein.« Sein gerötetes Gesicht glänzte, was die vielen Falten nur noch tiefer erscheinen ließ. Das Nachtleben, gelegentliche Gefängnisaufenthalte und unzählige Stunden im Solarium hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Was seiner Eitelkeit jedoch keinen Abbruch zu tun schien. Er rauschte an Moses vorbei und hüllte ihn in eine Wolke diverser Duftwässerchen. »Also, was wollen Sie? Ich schulde Ihnen nichts mehr!« Er stemmte die Fäuste in die Seite und sah Moses grimmig an.
»Ich weiß, dass wir quitt sind«, sagte Moses. »Trotzdem können Sie mir vielleicht helfen. Sagen wir, um der alten Zeiten willen.«
Vor Jahren hatte er Reimann vor einer unrechtmäßigen Mordanklage bewahrt. Seine Freundin, eine Prostituierte, war erstochen aufgefunden worden, und sowohl die Indizien als auch der Staatsanwalt hatten gegen Reimann gesprochen. Für Moses, der damals gerade erst bei der Mordkommission angefangen hatte, war es einer seiner ersten Fälle gewesen. Es war ihm gelungen, eine Kollegin der Toten als wahre Täterin zu überführen. Seitdem gehörte der ehemalige Bordellkönig zu Moses’ persönlichem Kontakt-Netzwerk, das er selbst vor seinen Kollegen geheim hielt.
»Ich soll Ihnen einen Gefallen tun?«, stöhnte Reimann. »Das bringt mir doch wieder nichts als Ärger.« Er ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Moses überlegte, sich auf das lachsfarbene Sofa zu setzen, blieb dann aber doch stehen. »Wer betreibt im Moment das Geschäft mit den Minderjährigen?«, fragte er laut.
»Keine Ahnung«, kam es aus dem Schlafzimmer zurück.
»Ach kommen Sie! Wer zieht da momentan die Fäden?«
Moses widerstrebte es zutiefst, an diese dunkle Seite seiner Heimatstadt auch nur zu denken. Die Kinderprostitution war wie ein bösartiges Krebsgeschwür. Sie ließ sich allenfalls eindämmen, ausmerzen ließ sie sich nie. Es war schwer, sich damit abzufinden. Moses trat an das Sideboard und nahm einen kitschigen Kristallbären in die Hand. Unweigerlich hatte er wieder das tote Mädchen vor Augen, die lebensgroße Puppe in dem Koffer.
»Ich bin schon lange raus«, sagte Reimann laut. »Außerdem habe ich nie mit Kindern zu tun gehabt. Bei mir war immer alles legal. Das wissen Sie doch.«
»Ich behaupte ja gar nichts anderes«, sagte Moses. Er stellte die Glasfigur an ihren Platz zurück. »Aber Sie sind immer noch auf dem Kiez unterwegs. Sie kennen die Leute, hören Gerüchte …«
Reimann kam fertig angezogen aus dem Zimmer. Er sah aus wie ein Relikt aus den Achtzigerjahren. Er trug mit Strass besetzte Cowboystiefel, eine knallenge Bluejeans und ein halb zugeknöpftes gelbes Hemd, das den Blick auf seine Brustbehaarung freigab. »Seitdem die Albaner den Kiez übernommen haben, ist es anders als früher«, sagte er. Er entnahm einer Schatulle eine Goldkette und legte sie an. »Ich halte meinen Arsch lieber raus. Dat is’ gesünder.«
Moses zog ein Foto des toten Mädchens hervor und hielt es Reimann unter die Nase. »Vielleicht ist Ihnen die junge Frau hier ja trotzdem schon mal zufällig begegnet. Auf einer Ihrer Touren vielleicht. Sie sind immerhin jede Nacht unterwegs.«
Reimann warf einen schnellen Blick auf das Foto. Er verzog das Gesicht. »Wie alt ist die Lütte?«
»Vierzehn oder fünfzehn. Haben Sie das Mädchen schon mal gesehen?«
Reimann schüttelte den Kopf. »Wo wurde sie gefunden?«
»Am Elbstrand. In einem alten, mit roten Kissen und Plüschtier ausstaffierten Überseekoffer.«
Reimann nahm seine Rolex vom Tisch und schloss das Armband um sein Handgelenk.
»Rote Kissen und Plüschtier?« Er lachte trocken. »Dann hat es ganz sicher nicht mit dem Kiez zu tun. Wenn da etwas mit einem Freier schiefgelaufen ist, betten sie die Mädchen nicht auf Kissen. Die werfen die Kleine weg und besorgen sich Nachschub. Die Zeiten sind nicht mehr wie früher, wo die Tillen Kapital waren, das betüdelt werden musste.«
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