Bernt Spiegel - Milchbrüder, beide

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Mehr als jeder dritte Bundesbürger, so eine Studie im Jahr 2019, sieht «Parallelen zwischen aktuellen politischen Ent-wicklungen in Deutschland und der NS-Zeit». Wie kommt man dem mit Mitteln der Literatur näher? Der Autor Bernt Spiegel, Jahrgang 1926, zeigt es. Er erzählt davon, wie ein verbrecherisches System in einer Gesellschaft und einem Staat zur Normalität wird. Spiegel erzählt aus der Sicht der Opfer – und aus der Sicht der Täter. Sein Roman erzählt die Geschichte zweier Jungs mit der gleichen Amme, einer arm, einer reich, einer geht zur SS, der andere nicht.

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Eines Tages fehlte beim morgendlichen Wiegen eines der drei Kätzchen. Viktor durchsuchte den ganzen Weidenkorb und schüttelte vorsichtig sämtliche Tücher und Decken aus. Dann suchten sie alle im ganzen Haus, in allen Räumen, draußen auf dem Hof und mit immer geringer werdender Hoffnung auch in den Scheunen und auf den Speichern. Nummer drei war verschwunden. Am gelassensten blieb Bobette.

Die Kinder aber wandten sich umso liebevoller den beiden verbliebenen Kätzchen zu und zogen mit ihnen, je tüchtiger diese wurden, durch Hof und Garten zu immer neuen Abenteuern.

Dann tauchte in Viktor diese trostlose Szene wieder auf, die er noch immer nicht recht verstand. Sie tauchte ebenso plötzlich auf, wie sie sich damals auf dem Hof abgespielt hatte: Bodo erläuterte gerade den beiden Buben, dass alle junge Katzen Flöhe hätten, dadurch würden sie dazu erzogen, ihr Fell fleißig zu pflegen, und gerade als Ludwig, am Boden kauernd, daraufhin begann, im Fell des einen der beiden noch immer namenlosen Kätzchen nach Flöhen zu suchen, trat Tante Georgette mit starrem Gesicht aus dem Haus und ging mit entschlossenen Schritten auf die kleine Gruppe zu. Dort fasste sie die Kätzchen an den Hinterbeinen und schlug sie, weit ausholend, mit dem Kopf mehrmals gegen das Hauseck.

Bodo blickte zu Boden und schlurfte mit hängenden Schultern davon, Ludwig und Viktor starrten Schorschett für einen Moment mit weit aufgerissenen Augen an, aus den rosaroten Katzennäschen tropfte Blut. Dann rollte sich Ludwig, der noch am Boden hockte, wie ein Igel zusammen, als wollte er am liebsten ganz verschwinden, während Viktor verzweifelt losheulte. Ludwig hätte gewiss auch zu weinen begonnen, was vielleicht besser gewesen wäre für ihn – wer weiß? –, aber daran hinderte ihn ein großes Lob, das er in diesem Augenblick von Schorschett bekam, weil er sich im Gegensatz zu Viktor, diesem Muttersöhnchen, tapfer und wie ein Mann verhalten habe, der jeder Aufgabe gewachsen sei.

Wie in einer stillen Absprache wechselten Viktor und Ludwig danach kein Wort mehr über das Geschehene. Sie gingen sich tagelang aus dem Weg, blickten aneinander vorbei und waren froh, wenn sie nicht allein zusammen waren. Es war, als wollten sie nicht daran erinnert werden, obwohl sie ständig daran dachten. Sie schämten sich voreinander, als hätten sie eine arge Schuld auf sich geladen und seien selbst die Täter gewesen, und jeder wusste vom anderen, dass er mit dabei war.

Noch ahnten sie nicht, wie sehr sie beide beschädigt worden sind. Erst viele Jahre später, sie waren längst erwachsen, wagte Viktor einmal eine Anspielung.

Am Nachmittag war Bienchen vom Feld nach Hause gekommen und hatte gleich damit angefangen, nach den Katzen zu suchen, aber Ludwig hatte sie mit gepresster Stimme beschieden:

„Die hat Tante Georgette weg –“

„– weggegeben“, hatte Viktor ergänzt, ihm fast ins Wort fallend, um die schlimme Botschaft wenigstens zum Teil zu vertuschen.

Irgendwann musste Viktor nach dieser reinigenden Erinnerung an den Bauernhof dann doch eingeschlafen sein. Als er nach dieser halb durchweinten Nacht zum Frühstück erschien, war sein Vater schon weggefahren. –

6_Ludwigs erste Hundeführerkarriere

Ludwigs Mutter war es nur recht, wenn Ludwig sie zum Putzen in der Villa Strauss begleiten wollte. Er konnte ihr die Tasche tragen und dort dann schon einmal alle Papierkörbe runterbringen und ihr auch sonst zur Hand gehen.

An sich, fand Ludwig, an sich gab es bei Straussens ja genügend Personal, eine Köchin mit einer Gehilfin, ein Zimmermädchen und einen Gärtner, der auch allerlei Hausmeisterdienste mit versah, sodass man auf die Dienste seiner Mutter eigentlich nicht angewiesen gewesen wäre. Aber er hatte den Eindruck, dass das Personal, das ihm manchmal etwas hochnäsig vorkam und nicht nur ihn, sondern auch seine Mutter herumkommandierte, die gröberen Putzarbeiten gerne an seine Mutter abtrat. Die Mutter aber war froh, das wusste er, dass sie noch etwas dazuverdienen konnte. Auch sonst halfen sich die beiden Häuser Zabener und Strauss bei besonderen Anlässen gegenseitig mit Personal aus. Der Konsul Zabener und Dr. Strauss waren seit Langem befreundet, beide waren Kriegsfreiwillige gewesen und ‚Frontkämpfer vierzehn/achtzehn‘, wie sie betonten, beide ehemalige Reserveoffiziere. Dr. Strauss war einer der großen Rechtsanwälte in der Region, in einer Kanzlei mit mehreren Anwälten, unter denen er, der Wirtschaftsspezialist, der einzige Jude war.

Ludwig ging auch sonst im Haus von Dr. Strauss ein und aus, nicht nur, um ab und zu Bienchen zu besuchen, sie war ja etwas älter als er, sondern vor allem, um die beiden großen Hunde auszuführen. Das waren echte Alsatians , wie Dr. Strauss gern kundtat, die viel Auslauf brauchen, wobei man sich jedoch von diesem fremdländischen Rassenamen nicht blenden lassen sollte, denn dieser entsprang der Anglophilie von Dr. Strauss, die seine Frau seinen England-Spleen nannte. Alsatians sind nichts weiter als gewöhnliche Schäferhunde, deutsche noch dazu, nicht etwa elsässische, und das waren diese beiden auch, allerdings zwei wunderschöne Exemplare.

Das tägliche Ausführen dieser Tiere aber war allen im Haus im Laufe der Zeit zunehmend lästig geworden, besonders der Köchin, die es schmerzte, dass ihre Liebe von den Hunden überhaupt nicht erwidert wurde und auch ihre ständigen Bestechungsversuche – für sie als Köchin leicht zu bewerkstelligen – erfolglos geblieben waren. So war Ludwigs Bereitschaft einzuspringen allseits willkommen, umso mehr, als die Hunde beim Aufbruch zu den Spaziergängen Ludwig deutlich bevorzugten, denn dieser tobte mit ihnen herum, ließ sie unterwegs Stöcke apportieren, rannte auch einmal eine längere Strecke mit ihnen und ließ keine Abweichung vom bürgerlichen Fußweg, die sich bot, ungenutzt. Waren sie dann zurückgekommen, Ludwig gewöhnlich noch mehr außer Atem als die Hunde, dann war man schnell mit der Ermahnung bei der Hand, dass er es doch nicht allzu wild treiben möge. Aber Ludwig antwortete schnaufend, er spüre ganz deutlich, dass diese Hunde beschäftigt werden wollten und auch beschäftigt werden müssten. Und er wisse auch genau, wann es ausreichend sei oder gar zu viel würde. So etwas spüre er einfach.

Überhaupt war Ludwigs Verhältnis zu den Hunden, aber eben auch deren Verhältnis zu ihm, bemerkenswert eng. Schon wenn er kam, waren die Hunde, oft noch bevor er geläutet hatte, außer Rand und Band. Weiß der Teufel, wie sie sein Kommen bemerkten, jedenfalls sprangen sie auf, bellten, liefen aufgeregt hin und her und behielten die Tür, zu der er gleich eintreten würde, im Auge. War er dann da, so sprangen sie mit Lauten, die wie ein helles Stöhnen klangen, an ihm hoch, versuchten sein Gesicht abzulecken (was er duldete) und führten sich auf, als hätten sie schon den ganzen Tag nichts anderes getan, als auf ihn zu warten. Danach schleppten sie, wie zu seiner Huldigung, allerlei Gegenstände an, die sie in der Halle fanden – eine Kleiderbürste, einen Schal, einen schon lange vermissten Handschuh –, und legten sie mit einem hellen Jaulton vor Ludwig ab.

Wenn Ludwig mit den Hunden balgte und spielte, sah Dr. Strauss gerne zu, mit einem gütigen und manchmal auch etwas skeptischen Lächeln. Ludwig liebte das Warme in diesem Blick und diese sanften Augen, die sich von den grauen Augen seines Vaters, die fordernd waren und streng, so sehr unterschieden.

Als kürzlich die Maler den Lieferanteneingang mit einem Gerüst versperrt hatten, ging Ludwig, nicht ohne Beklemmung, durch den viel vornehmeren Besuchereingang von vorn in das Haus. Man ging da über eine breite Freitreppe vier Stufen hinauf bis zur Haustür, einer ebenso mächtigen wie düsteren Kassettenkonstruktion aus Eiche mit hochglanzpolierten Messingbeschlägen darauf. Dahinter kam erst noch eine kleine Vorhalle mit einer Stechpalme an der Seite und einem ebenfalls auf Hochglanz gebohnertem Terrazzoboden, auf dem groß in Schwarz auf weißem Grund SALVE zu lesen war, bevor es dann noch einmal zwei breite Stufen hinaufging zu einer mehrflügligen Eingangstür mit kunstvoll geätzten Glasscheiben im Jugendstil, die diese kleine Vorhalle zur großen Halle hin abtrennte.

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