Wir hatten unser Opfer schnell gefunden. Ein Mann mittleren Alters in einem vornehmen Mantel, der einen Beutel voll Teeblätter kaufte. Er war groß und sein dunkles Haar wurde beinahe vollständig von einem schwarzen Hut verdeckt. Gerade verließ er den Teestand. Ich schickte ihm Leana hinterher und folgte ihr dann in kurzem Abstand. Sie rannte die Straße hinunter wie ein Fohlen in vollem Galopp, streifte besagten Mann beim Überholen an der Seite, stolperte und fiel der Länge nach auf das harte Pflaster. Direkt vor seine Füße. Er blieb stehen und beugte sich zu ihr hinunter.
„Das kommt davon, wenn man so unbedacht durch die Menge fegt“, hörte ich ihn sagen. Ich war ihm jetzt ganz nahe.
Leana ließ sich von ihm auf die Beine ziehen und wischte sich die aufgeschürften Hände am Stoff ihrer Jacke ab. „Danke. Das nächste Mal pass ich besser auf.“
Da war ich schon vorbei, der Mann lief weiter und Leana suchte mich zwischen den Leuten. Als sie mich gefunden hatte, sah sie mich fragend an. Ich grinste und zog, als wäre ich ein Zauberer, einen prall gefüllten Geldbeutel aus meiner Jackentasche.
Nachdem wir in einem – zu unserem großen Bedauern unbeheizten – Wirtshaus unseren Durst gestillt hatten, standen wir nun vor dem Schaufenster der Metzgerei und uns lief bei dem sich uns bietenden Anblick das Wasser im Mund zusammen: Wurstketten, Schweinekeulen, Rippen, Schinken und sogar komplette Hälften von Schweinen, deren Ohren traurig gen Boden hingen. Im Waisenhaus hatte es nicht oft Fleisch gegeben. Dafür viel Haferschleim und altes Brot. Ich hörte Leanas Magen knurren.
„So viel Fleisch!“, entfuhr es ihr in andächtigem Ton.
„Was würdest du als Erstes essen?“, wollte ich wissen.
Sie schenkte mir ein schelmisches Grinsen. „Das da.“ Sie deutete auf ein halbes Schwein. „Und danach die Wurstkette.“
„Du könntest sie dir wie einen Schal um den Hals binden. Und immer wenn du hungrig wirst, brauchst du nur den Kopf zu senken und daran zu knabbern.“
Leana lachte. „All die feinen Damen hier würden mich um solch einen Schal beneiden.“
In diesem Moment riss jemand von innen die Ladentür auf und ein Glöckchen bimmelte in schrillem Ton. Ein stämmiger, groß gewachsener Mann steckte seinen glatt rasierten Kopf heraus und sah uns fragend an. „Wollt ihr den ganzen Abend vor meinem Laden stehen und euch die Bäuche reiben oder habt ihr auch Geld, um etwas zu kaufen? Wenn ja, kommt herein und wärmt euch auf, wenn nicht, dann verschwindet lieber.“
Drinnen war es wohlig warm. Erst jetzt bemerkte ich, wie durchgefroren ich wirklich war. Es tat gut, sich wieder einmal in einem Gebäude zu befinden, Wärme zu spüren, Essen vor sich zu sehen und Geld in der Tasche zu haben. Das erste Mal an diesem Tag fühlte ich mich beinahe glücklich.
Der unaufdringliche Duft von Schweinewurst hing in der Luft, und wenn ich die großen Schenkel an den Haken hängen sah, die beinahe menschlich wirkten mit ihrer blassen Haut und dem roten Fleisch, fühlte ich mich für einen kurzen Augenblick in einen dieser Albträume hineinversetzt, die zu schrecklich waren, als dass man sich vollständig an sie erinnern konnte.
Der weiß gekachelte Ladenbereich der Metzgerei war nicht sehr groß, doch durch eine halb geöffnete Tür konnte man in einen zweiten, größeren Raum blicken, in dem ich einen Holztisch und ein darin versenktes Beil erspähen konnte.
Der Metzger stand hinter einer gläsernen Theke, durch die wir freien Blick auf die feinsten Fleischsorten hatten. Hinter ihm hingen die schrecklich aufgespießten Schweinehälften und -beine. Nahezu bedrohlich lehnte er sich über den Rand der Glasscheibe und blickte auf uns hinab. Unter der Haut seiner aufgestützten Arme spielten kräftige Muskeln. Seine weiße Schürze war mit getrocknetem Blut beschmiert. Ich musste nicht zu Leana hinübersehen, um zu wissen, dass sie sich vor diesem Mann fürchtete. Ich konnte es förmlich spüren.
„Nun?“ Seine brummige Stimme klang ungeduldig.
Ich deutete auf eine schmale hellbraune Wurstkette. „Zwei davon.“
Eine der buschigen Augenbrauen sprang in die Höhe. „Nur zwei? Und dafür verschwendet ihr all meine kostbare Zeit?“
Leana übernahm ihren Teil des Schauspiels, so wie wir es zuvor besprochen hatten. „Wir haben nicht genug Geld für mehr als das.“
Der Mann seufzte. „Das habe ich mir gedacht. Sechs Kiesel. Habt ihr das?“
Ich suchte in meiner Hosentasche nach den Münzen, die ich eine nach der anderen herausfischte. Sorgfältig hatte ich zuvor den Geldbeutel nach Kupfer durchsucht. Es gab keinen Grund, dass jemand erfuhr, wie viel Geld wir wirklich besaßen. Abgemagerte Kinder mit schmutziger Kleidung, die mit Silbermünzen um sich warfen, gerieten nur allzu schnell in die Fänge der Stadtwächter. Aber nicht wir.
Ich ließ die Münzen in die ausgestreckte Hand des Metzgers fallen und er reichte uns die Würste. Leana, ausgehungert, wie sie war, biss sofort hinein und begann unter den Augen des Mannes, eifrig zu kauen. Ich ging zur Tür hinüber, Leana folgte. Wir waren schon beinahe zurück auf der Straße, als wir einen tiefen Seufzer hörten, gefolgt von einem widerwilligen „Wartet!“. Wir drehten uns zum Metzger um, der hinter der Theke hervorgekommen war. „Wisst ihr, wo ihr heute Nacht schlaft?“, wollte er mit Blick auf die zusammengerollte Decke unter meinem Arm wissen.
Leanas Augen wanderten fragend zu mir hinüber. „Wir werden schon etwas finden“, erwiderte ich zögerlich.
Die linke Augenbraue des Mannes ging in die Höhe. „Es wird sehr kalt werden heute Nacht.“
„Daran kann ich leider nichts ändern, mein Herr“, sagte ich und wollte mich abwenden.
„Ich wüsste da etwas für das Mädchen.“
Mein Herz machte einen Hüpfer, doch ich blieb misstrauisch. Erst sah ich Leana in die Augen, dann dem Metzger. „Und was wäre das?“
Der Mann schaute mitleidig zu Leana hinunter. „Ich habe eine Tochter in deinem Alter, weißt du?“ Und dann an mich gewandt: „Meine Nachbarn brauchen ein neues Küchenmädchen. Ich könnte ein gutes Wort für sie einlegen. Und auch fragen, ob sie Verwendung für einen jungen Burschen wie dich haben.“
„Was verlangen Sie dafür?“, fragte ich und der Mann schenkte mir einen schiefen Blick.
„Was ich dafür ... Seid ihr aus dem Waisenhaus im Ring?“
Leana nickte langsam.
„Dann wundert mich gar nichts“, murmelte er. „Wieso geht ihr nicht dorthin zurück? Immer noch besser, als auf der Straße zu leben bei diesem Mistwetter.“
„Es ist überfüllt. Die Ältesten müssen gehen“, erklärte ich.
Der Metzger nickte verstehend und strich sich nachdenklich über den kahlen Kopf. „Na, dann kommt mal mit, ihr beide.“
Bevor wir die Metzgerei verließen, drückte uns der Metzger noch jeweils eine Scheibe Schinken in die Hand und warf sich einen dicken Wintermantel über die Schultern. So einen hätte ich auch gerne gehabt für mich und Leana, als uns die kalte Luft von Neuem umfing.
Wir mussten nicht besonders weit laufen, denn der Mann, der sich uns als Roman vorstellte, wohnte nicht weit von seinem Arbeitsplatz entfernt im Villenviertel, durch das wir hergekommen waren. Sein Haus war groß und schön, doch das seiner Nachbarn war größer und schöner. Ein zweistöckiges weißes Gebäude ragte vor uns aus dem Boden, an dessen Wänden die kahlen Ranken einer Pflanze emporkletterten. Im Sommer musste es sehr schön aussehen. Wer immer Romans Nachbarn waren, sie mussten einen Haufen Geld verdienen.
„Wartet hier“, sagte Roman und ließ uns am hohen Gartentor zurück.
„Es ist zu schön, um wirklich wahr zu werden. Zu einfach“, murmelte Leana leise.
Ich lächelte ihr ermutigend zu. „Auch arme Leute haben manchmal Glück. Sie suchen ein Küchenmädchen und du hast schon oft in der Küche gearbeitet. Ich wüsste nicht, weshalb sie dich nicht einstellen sollten.“ Vielleicht klang meine Stimme eine Spur zu zuversichtlich, um sie zu überzeugen, denn ihr Blick blieb skeptisch.
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