Das zu tun erfordert die ganze Kraft einer europäischen Gemeinschaft. Nationalstaaten sind dabei heillos überfordert. Sie haben das auch am Beginn dieser Krise wieder einmal in besorgniserregender Art und Weise unter Beweis gestellt.
Nur wenn es Europa gelingt, sein gesamtes Arsenal an wirtschaftlichen Waffen einzusetzen und so wie in der Finanz- und Eurokrise notwendige Maßnahmen rasch zu setzen, nur wenn es gelingt, seinen Binnenmarkt nicht zu unterbinden, sondern zu stärken, kann Europa auch diese Krise überwinden. Europa hat leider immer Krisen gebraucht, um vernünftige Schritte nach vorwärts zu machen. So wäre auch diesmal ein entschlossenes und vor allem solidarisches Handeln angesagt.
Als 68er-Student habe ich in den Chor miteingestimmt: »This world has lost its glory, let´s start a brand new story!« Heute würde ich, wesentlich pragmatischer geworden, sagen: »We can work it out!«.
Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ist kein Wille da, dann hat Corona unseren europäischen Abstieg besiegelt. Wenn doch, dann hat auch Corona als Auslöser eines neuen europäischen Aufstiegs seinen Sinn gehabt. Dann hätte uns die Krise stärker gemacht.
Corona can make or break the Union!
»Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!« hat die Band Geier Sturzflug getextet. Ich variiere: »Gestalten wir Europa, solange das noch geht!«.
Die Jungen demonstrieren. Das ist ihr gutes Recht. Aber wer nimmt ihre Ideen auf, versucht, darauf einzugehen und gemeinsam mit ihnen Lösungsansätze zu entwickeln?
Beispiel London: Eine Million junger Menschen demonstriert gegen den Brexit, die größte Kundgebung in der Geschichte des Vereinigen Königreiches. Und was passiert? Ein Dialog mit den Jungen? Ein Gespräch darüber, welche Erwartungen sie an die Zukunft haben, für die die heute Regierenden eine ungeheure Verantwortung tragen?
Nichts passiert. Im Gegenteil: Jene Kräfte, die in Großbritannien für den Brexit sind, setzten sich bei den Wahlen durch. Die Älteren stimmten mit überwältigender Mehrheit für die Pro-Brexit-Partei, bei den Jungen ist sie klar in der Minderheit.
So rauben sie den Jungen ihre Hoffnungen!
Und wer redet schon mit den Jungen? Die Eltern sind beschäftigt und als Doppelverdiener oft mehr als ausgelastet. Großfamilien früherer Zeiten sind Ausnahmefälle. Schulen sind überfordert. Arbeitsplätze werden zunehmend computerisiert, automatisiert, anonymisiert. Und die Politik bleibt bei ihrer administrierenden Tagesordnung.
Frühere gesellschaftliche Bindungskräfte wie Kirchen, Gemeinden, Vereine und örtliches Zusammenstehen verlieren an Bedeutung. Die Bereitschaft zum Engagement in ehrenamtlichen Vereinen ist zwar noch vorhanden, aber rückläufig. Das Netzwerk menschlicher Begegnungspunkte wird ausgedünnt.
Nicht einmal unsere Bestattungskultur ist von dieser Entwicklung verschont. Der neueste Trend: Entsorgung des Leichnams anstelle eines würdigen Begräbnisses.
Es gibt einen Generationenbruch. Die neuen Generationen richten sich ihre eigene Welt ein. In ihrer Welt der Smartphones, der Tablets, der Selfies und Whatsapp-Vernetzung fühlen sie sich wohl. Sie leben in der Welt von morgen.
Da können viele Ältere nicht mit. Sie fühlen sich als Modernisierungsverlierer.
Das ist eine weltweite Erscheinung, allerdings ist die Gefahr des Verlustes einer Brücke zwischen den Generationen in Europa besonders spürbar. Durch die demografische Vergreisung Europas bildet sich eine strukturelle Mehrheit der Alten über die Jungen. Die Jungen sind tendenziell optimistischer und kreativer, erhalten zur Umsetzung ihrer Ideen und Lebensvorstellungen aber oft keine Chance. Sie wollen vorwärts blicken durch die Windschutzscheibe des Gefährtes Europa, zu viele Ältere schauen in den Rückspiegel.
Während sich die Älteren nach nationalstaatlicher Heimeligkeit zurücksehnen, wollen Jüngere mehr Weltoffenheit und sind von der Notwendigkeit eines einigen Europas überzeugt.
Andererseits sind gerade den Jüngeren viele der Errungenschaften Europas wie Frieden und Freiheit längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Authentische Berichte aus den fürchterlichsten Zeiten der letzten Weltkriege gibt es nicht mehr. Die Erinnerung an schwere Zeiten verblasst, und neuer Nationalismus droht Europa zur leichten Beute seiner inneren und äußeren Gegner zu machen.
Wer baut Brücken zwischen den Generationen? Wer nimmt ihre Sorgen ernst? Wer bezieht die jungen Leute viel stärker in Entscheidungen ein, die diese ja in den kommenden Jahrzehnten betreffen werden?
Meine Generation hat an die Eltern und Großeltern unangenehme Fragen gestellt: Warum habt ihr euch von Hitler verführen lassen? Warum konntet ihr nicht Frieden halten, sondern habt Abermillionen Tote zugelassen? Warum seid ihr den Schalmeientönen der Rattenfänger, des Populismus und der Demagogie erlegen?
Müssen wir uns nun selbst eines Tages fragen lassen: »Warum habt ihr verabsäumt, den ja durchaus erkannten Problemen auch Lösungen entgegenzusetzen?«?
Was habt ihr getan, um dem hilflosen Zugrundegehen von Flüchtlingen zuzusehen, während ihr vollmundig europäische Werte gepredigt habt? Warum habt ihr über die jungen Menschen gelacht, die ihren Klimasorgen Ausdruck verliehen haben? Mag sein, dass dabei in der Ausdrucksweise der eine oder andere Fehler gemacht worden ist, aber war es deswegen unberechtigt? Und was habt ihr getan nach dem Supergau durch die Pandemie, um Vorsorge für die Zukunft zu treffen? Welche Lektionen habt ihr gelernt? Welche Welt habt ihr uns hinterlassen?
Müssen wir uns das alles eines Tages wirklich fragen lassen? Und welche Antworten geben wir dann?
Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass zwei Drittel unserer Welt diktatorisch oder autokratisch regiert werden und nur ein Drittel liberaldemokratisch.
Was hat dazu geführt, dass die scheinbar unaufhaltbare Verbreitung der Demokratie plötzlich ins Stocken geriet? Oder anders gefragt: Was macht die autokratischen Systeme so attraktiv, dass sie plötzlich den Trend der Zeit verkörpern?
Ist es die Unfähigkeit, in den Demokratien die Probleme der Zeit zu lösen? Die Autokraten bieten Lösungen, einfache Lösungen, zumeist verbunden mit Projektionen auf äußere Feinde.
Ist es der Mangel an großen Führungspersönlichkeiten in der Demokratie? Wie erbärmlich ist das Schauspiel der ältesten Demokratie der Welt, Großbritannien, im Zusammenhang mit dem Brexit?
Viele europäische Leader machen ihre Sache gut. Aber haben sie auch Kraft für Visionen, strahlen sie noch inneres Feuer aus, das Begeisterung entfacht? Brauchen wir gute und solide Verwalter oder Motivatoren für Zukunftsbilder der nächsten Generationen?
Populisten sind auf dem Vormarsch, und es scheint ihnen niemand etwas entgegenzusetzen. Verführerisch halten sie uns die süß duftende Giftflasche des Nationalismus entgegen.
Die Wiederkehr des nationalistischen Populismus kommt für viele überraschend. Ein Schlüssel dafür liegt in der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09. Sie brachte nicht nur ökonomische und soziale, sondern auch mentale Erschütterungen und Verwerfungen. Es war eine Vertrauenskrise: Anstelle von Vertrauen entstand Misstrauen, Misstrauen in die Politiker und Parteien, die offensichtlich mit den Veränderungen und den damit verbundenen Herausforderungen nicht fertig wurden. Aber auch Misstrauen in eine internationale Vernetzung, die man zunehmend als Abhängigkeit wahrnahm. Aus dem Wunsch nach globaler Kooperation wurde die Forderung nach nationalem Egoismus.
Die Krise war der Humus für Protestbewegungen, Globalisierungskritiker und Modernisierungsverlierer. Dazu kam das Unbehagen über die eigene verschlechterte Lage wegen der Sparmaßnahmen im Zuge der Budgetsanierungen, die der Finanzkrise folgten. Und was, wenn keine Budgetsanierung, wird nun der Coronakrise folgen? Wir kommen vom Regen in die Traufe!
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