HENKER
Auch Benjamin schaute mir immer gerne bei der Arbeit zu.
MUTTER GASCOYNE
Was ist der Unterschied zwischen einem toten, gerupften Huhn und einem lebendigen, Victor?
VICTOR
Das tote, gerupfte ist einen Sixpence mehr wert als das lebendige, Mama.
MUTTER GASCOYNE
Was machen wir daher?
VICTOR
„Seine Seele befreien“, Mama?
MUTTER GASCOYNE
Ganz recht.
HENKER
Jetzt wird’s spannend. War die Schneide auch schön scharf?
VICTOR
Mutters Beil war unter den Hühnern das gefürchtetste in ganz Clapham. Benjamin und ich feuerten Mutter an.
HENKER
Ganz der Papa …
VICTOR
Und ssssst – war der Kopf ab.
HENKER
Feine Sache, das.
VICTOR
Doch dann: Im Augenblick des Todes kam nochmal Leben in das Huhn. Kopflos stieg es Meter um Meter in die Höhe, der vermeintlichen Freiheit entgegen, um im nächsten Augenblick –
(Aus dem Schnürboden fällt der Mutter pfeifend ein Huhn in den Schoß. Sie beginnt es zu rupfen.)
Sinnlos, aber unterhaltsam. Ich habe mich oft gefragt, was wohl dem Kopf währenddessen durch den Kopf geht –
MUTTER GASCOYNE
Victor, wovon träumt mein kleiner Liebling denn schon wieder.
VICTOR
Warum bekommen die anderen Kinder immer Besuch von ihren Onkeln und ihren Tanten und wir nie?
MUTTER GASCOYNE
Weißt du, Victor, früher kam uns mein Bruder, dein Onkel Marmaduke, gelegentlich besuchen …
(Ein Bilderrahmen der Ahnengalerie wird sichtbar. Darin „Onkel Marmaduke“. Musikalisches Adeligen-Motiv.)
Dein Onkel hegte zwar keine direkte Antipathie gegen deinen Vater …
Der Mexikaner wird wieder sichtbar. Er singt und spielt mexikanisch.
MEXIKANER
(singt) Y porque gitano soy!
MUTTER GASCOYNE
… und betonte immer wieder …
MEXIKANER
(singt) Como lo pienso voy!
ONKEL MARMADUKE
Augusta …
MEXIKANER
(trocken kommentierend) Ayayay!
ONKEL MARMADUKE
Du weißt doch genau, dass ich nichts gegen Ausländer habe.
MEXIKANER
(singt) Es un amor mi vi----da
Der Onkel erschießt den Mexikaner. Der Gesang erstirbt. Der Mexikaner verschwindet mit einem kurzen musikalischen Todesmotiv, das sich durch das Stück ziehen wird.
VICTOR
Donnerwetter. – An welchem Startplatz für das Grafenrennen steht Onkel Marmaduke denn?
MUTTER GASCOYNE
Das weißt du doch. Ich habe dir den Stammbaum oft genug gezeigt!
VICTOR
Ja, Mama.
MUTTER GASCOYNE
Mein Schatz. Wäre Onkel Marmaduke noch am Leben, so stünde er noch vor dir an 27. Stelle.
VICTOR
Was wurde aus ihm?
MUTTER GASCOYNE
Nach einer einmaligen und sehr kurzen Glücksträhne im Casino …
Man hört einen entsprechenden Jackpot-Sound, der Onkel juchzt.
ONKEL MARMADUKE
(sprengt den Bilderrahmen) Juhu!
MUTTER GASCOYNE
… verfiel er dem Glücksspiel und konnte schließlich seine Schulden nicht mehr begleichen. So blieb ihm nur ein Ausweg.
Der Onkel erschießt sich. Todesmotiv. Das Bild ab.
VICTOR
Oh …
MUTTER GASCOYNE
Ja. Ich schrieb damals einen Kondolenzbrief an Lady Gascoyne, doch er blieb unbeantwortet. Natürlich! (verbittert reißt sie die letzten Federn aus, das Huhn gackert empört auf) Wollen wir uns den Stammbaum mal wieder ansehen?
VICTOR
Oh ja! Bitte!
Man hört das Geräusch einer imaginären, sich abrollenden Karte.
MUTTER GASCOYNE
Da schau einer an, deine Chancen, Graf zu werden, sind seit unserer letzten Sitzung beträchtlich gestiegen.
VICTOR
Was heißt das, Mama?
MUTTER GASCOYNE
(schnell, virtuos) Pass gut auf: Graf Henry vererbt den Titel vor Henry und Adalbert an den Ältesten, George, den Vater von Henry und Simeon, während ihre Cousins Patrick, Henry, Henry und Henry nicht erbberechtigt sind. Dagegen aber Gascoyne Gascoyne und sein Sohn Gascoyne Gascoyne – sowie dessen Neffe Henry.
VICTOR
Ich verstehe.
HENKER
(verwirrt) Ich bin raus.
VICTOR
Und weil Onkel Marmaduke und Großgroßgroßonkel George tot sind, bleiben noch Ughtretta und Henry. Aber wenn Henry der Vater von Henry ist, und Simeon sein Onkel, bist du dann die Großcousine oder die Nichte von Marmaduke?
MUTTER GASCOYNE
Die Urgroßenkelin, aber Henry ist auch schon sehr, sehr alt.
VICTOR
Werde ich irgendwann einmal Graf werden?
MUTTER GASCOYNE
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, mein Schatz, aber auch nicht unmöglich. In jedem Falle solltest du dich stets so verhalten, wie es sich für jemanden deiner Herkunft geziemt.
VICTOR
Ja, Mama.
MUTTER GASCOYNE
Wer weiß schon, was geschehen wird, Victor.
VICTOR
Aber damit ich Graf werden kann, müsstet du doch auch sterben, Mama! Das will ich nicht!
MUTTER GASCOYNE
Wir alle müssen sterben, mein Liebling. So, und jetzt werde ich dieses Huhn seiner Bestimmung zuführen und es füllen. (Das Huhn reagiert empört.) Und du hol deinen Schal und geh mit Benjamin Murmeln spielen.
VICTOR
Ja, Mama.
MUTTER GASCOYNE
(für sich) Mein kleiner Lord. (ab)
Sound-Einspieler Gegenwart.
HENKER
Sie hatten wirklich gar keinen Kontakt zur Familie?
VICTOR
Nicht im Geringsten. Die Gascoynes haben es meiner Mutter nie verziehen, unter Stand geheiratet zu haben. Noch dazu einen Ausländer. Für die war sie praktisch gestorben. Und ich ebenfalls.
HENKER
Das kommt mir bekannt vor.
VICTOR
Wie das?
HENKER
Mein Beruf ist nicht immer ein Zuckerschlecken, das kann ich Ihnen sagen.
VICTOR
Das tut mir leid zu hören.
HENKER
Ist fein von Ihnen, eure Lordschaft, das zu sagen. Mächtig fein. Ich werde auch nie vergessen, wie freundlich Sie mit meinem kleinen Benjamin umgegangen sind.
VICTOR
Benjamin? Benjamin Calcraft! Jetzt dämmert es mir. Benjamin erzählte uns immer, dass sein Vater einen tollen Beruf hätte, für den manch anderer sein Leben geben würde.
HENKER
Aye. Das war mein Sohn. Gott hab ihn selig.
VICTOR
Oh! Mein Beileid.
HENKER
Wäre vielleicht in die Fußstapfen seines alten Herren getreten und auch Henker geworden.
VICTOR
Dann stünde Benjamin jetzt vielleicht an Ihrer Statt!
HENKER
So ist es.
VICTOR
(zu sich) Ein seltsamer Gedanke, von jemandem den Kopf abgeschlagen zu bekommen, mit dem man gemeinsam Murmeln gespielt hat.
HENKER
(unterdrückt die Tränen) Aye. Murmelnspielen mochte er am liebsten.
VICTOR
Ich hoffe, er ist keines allzu unangenehmen Todes gestorben?
HENKER
Ich fürchte doch, Sir. Er hat sich die Lunge aus dem Leib gehustet.
VICTOR
Das tut mir aufrichtig leid, William.
HENKER
Mächtig fein von Ihnen, das zu sagen, Sir, mächtig fein. –
(Der Henker erinnert sich. Dezente Untermalung „Motiv Henker“.)
Es war einfach eine üble Pechsträhne damals. Meine Frau Tilda, Gott hab sie selig, hatte von ihrem Bruder eine Kuh geschenkt bekommen.
VICTOR
Was Sie nicht sagen.
HENKER
Ja. Und ich hatte damals etwas Geld gespart.
VICTOR
Das ist doch gut.
HENKER
Ja. Herrliche Zeiten damals. Da gab es noch richtige Verbrecher. Raubmörder, Brandstifter, Erpresser … Ich kam mit dem Schleifen kaum nach. Es war prächtig.
VICTOR
Das ist doch gut.
HENKER
Ja! Das Geschäft blühte, und ich dachte mir, William, dachte ich mir, bevor du das gute Geld ins Pub trägst, leg es klug an. Und so habe ich selbst ein Pub aufgemacht.
VICTOR
Das ist doch gut.
HENKER
Ja! Zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte ich. Wo ich doch so gern im Pub bin. Aber dann war da noch diese Kuh und ich dachte, William, dachte ich, wenn du schon ein ganzes Pub baust, dann kannst du auch einen kleinen Stall dran bauen.
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