Haben Sie den Eindruck, unter diesen Umständen nicht weiterleben zu können? Dann geben Sie sich noch eine Chance. Suchen Sie einen Psychotherapeuten auf. Er kann Ihnen die Entscheidung über Leben und Tod nicht abnehmen. Er kann Ihnen aber helfen, die einzelnen Möglichkeiten und Lebensperspektiven, die Ihnen bleiben, noch einmal behutsam anzuschauen. Sie mögen im Augenblick verwirrt und unfähig sein, sie zu erkennen. Mit ihm können Sie offen über Ihre Gefühle sprechen. Sie brauchen sich nicht zu verstecken oder zu verurteilen, dass Sie sich so elend und hilflos fühlen. Im Anhang finden Sie Adressen, an die Sie sich wenden können. Versprechen Sie mir, es zu tun. Sie können sich auch an mich wenden, wenn in der Liste kein Therapeut in Ihrer Nähe ist. Ich werde Ihnen dann auf alle Fälle persönlich antworten und Adressen von Therapeuten zuschicken.
Auch wenn Sie Ihren Partner schon vor mehreren Jahren verloren haben, kann es ein, dass Sie die Phase der Trauer noch nicht überwunden haben. Sie empfinden noch immer heftigen Schmerz, wenn der Name des verlorenen Partners fällt, wenn Sie mit ihm in der Erinnerung verknüpfte Orte aufsuchen oder von ihm träumen. Wenn das, was Sie vor sechs Monaten schmerzte, heute noch mit der gleichen Heftigkeit weh tut, wenn Sie noch immer gleich häufig an den Toten denken, dann ist es hilfreich für Sie, einen Therapeuten aufzusuchen.
Ich schreibe der Einfachheit halber immer nur von dem Verlust des Partners. Damit könnte gemeint sein: der Verlust einer guten Freundin, eines Freundes, der Mutter, des Vaters, eines Kindes, von Geschwistern.
Was erwartet Sie in diesem Buch?
Ich habe dieses Buch in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil möchte ich Ihnen darüber berichten, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen mit dem Tod umgehen, welche Phasen alle Trauernden durchlaufen und welche Mythen in unserer Gesellschaft zum Tod existieren. Ferner erfahren Sie, auf welche Weise sich die Trauer bei Kindern äußern kann, welche Hilfe uns die Religion für den Umgang mit dem Tod gibt und welche inneren Kräfte wir einsetzen können, um mit dem Verlust fertig zu werden. Im zweiten Teil möchte ich Sie durch die unterschiedlichen Phasen Ihrer Trauer begleiten und Ihnen dabei behilflich sein, sich zu verstehen, anzunehmen und die Phasen zu überwinden.
Was kommt nach der Trauer?
Am Ende der Trauer werden Sie sich stärker, reifer und unabhängiger fühlen und besser für kommende Krisen gerüstet sein. In Ihrer Krise steckt auch für Sie die Chance einer positiven Veränderung. Bitte bleiben Sie bei mir und lesen Sie mit mir zusammen dieses Buch. Sie können lernen, Ihren Verlust zu akzeptieren, ohne Ihren Partner zu vergessen. Sie werden wieder ein gesundes, normales Leben führen können, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Wie viel Zeit Sie dafür benötigen, können Sie mitbestimmen. Haken Sie sich bei mir unter und wir werden uns gemeinsam auf den Weg machen.
Ihre
Doris Wolf
Teil I Was wir über den Tod wissen müssen
Eine große Bitte zu Beginn: Auch wenn Ihnen vor Schmerz überhaupt nicht nach Lesen zumute ist, beginnen Sie dennoch damit. Sie werden sich nicht gut konzentrieren können und den Eindruck haben, nichts und niemand könne Ihnen in Ihrer Lage helfen. Lesen Sie dennoch ein wenig weiter – auch wenn Sie dabei weinen. Nehmen Sie das Buch immer wieder zur Hand und lesen Sie ein wenig darin.
1Der Umgang mit dem Tod in verschiedenen Kulturen
Wir können dem Tod nicht entrinnen. Er steht am Ende unseres Lebens, zumindest auf dieser Welt. Jede Kultur hat im Laufe der Jahrhunderte ihren eigenen Umgang mit dem Tod und auch damit, ob etwas nach dem Tode kommt oder nicht, entwickelt. Es gibt Beweise dafür, dass sich alle Menschen um einen erlittenen Verlust grämen, wenn auch in unterschiedlicher Stärke. Laut Berichten von Wissenschaftlern, die andere Kulturen und ihre Reaktionen auf den Verlust eines Menschen untersucht haben, gibt es überall kurz nach dem Verlust ein allgemeines Bemühen um die Wiedererlangung der geliebten Person und/oder es wird an ein Wiedersehen nach dem Tode geglaubt.
Schon früh in unserem Leben lernen wir den Umgang mit dem Tod. Wir bekommen mit, wie sich unsere Eltern verhalten, wenn unser Hamster stirbt oder wir die Großmutter oder eine Nachbarin verlieren. Vielleicht hat man uns erzählt, dass man traurig sein muss, wenn jemand stirbt, dass man schwarze Kleiderträgt, dass der Tod Gottes Wille ist, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt, dass man nicht weinen darf und stark sein muss, dass man nicht über den Tod reden darf, dass der Tod nur andere betrifft, oder dass wir in den Himmel oder in die Hölle kommen usw. Alles in allem bietet unsere westliche Kultur keine allzu große Unterstützung, wenn es um den Tod geht.
Bis ins 18. Jahrhundert war der Tod noch Bestandteil des Alltags. Auf dem Friedhof vor der Kirche wurden Gerichtsversammlungen abgehalten, Krämer stellten dort ihre Stände auf und man sah beim Vorbeigehen die Gebeine der Toten liegen. Totenschädel wurden sogar als Schmuckstück auf dem Schreibtisch benutzt. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich der Umgang mit dem Tod. Der Friedhof wurde vor die Stadt verlagert, der Tod wurde zur unerträglichen Erinnerung. Es wurden Leichenhäuser eingeführt. Immer mehr Menschen, insbesondere in den Städten wünschen eine anonyme Bestattung, bei der sie ohne Angehörige und ohne Grabstein auf einem Gräberfeld bestattet werden. Der Tod wird hierbei sozusagen unsichtbar.
In ländlichen Gegenden war und ist es heute auch manchmal noch anders. Ich habe noch miterlebt, wie der Großvater zuhause in einem Zimmer bis zur Beerdigung aufgebahrt wurde, wie die Großmutter seinen Sarg liebevoll schmückte und wie dann nahezu die ganze Dorfbevölkerung hinter dem Sarg durch das Dorf bis zum Friedhof zog und die Nachbarn den Sarg trugen. Ich habe erlebt, wie der tägliche Gang zum Friedhof, das tägliche Schmücken des Grabes, die weiterhin bestehende Anteilnahme der Nachbarn meine Großmutter stützte und ihr half, sich behutsam vom Großvater zu lösen. Sie trug ein Jahr schwarze Kleidung und zeigte damit nach außen ihre Trauer. Sicher war der langsame Weg zu einer neuen Lebensperspektive ohne Partner auch nicht einfacher wie heute, aber das Geborgensein in einer bekannten Umgebung war sicherlich sehr förderlich.
Wenn wir beginnen, die Trauer als eine normale menschliche Reaktion auf Verlust anzusehen, dann brauchen wir uns deshalb nicht mehr schuldig oder schwach zu fühlen.
Tod ist ein Thema, das in unserer Gesellschaft gemieden wird. Tod passiert anderen oder zu einem anderen Zeitpunkt – nicht jetzt. Über Tod und Sterben spricht man nicht. Wir lernen nicht, zu trauern, die Trauer anzunehmen und zu durchleben. Stattdessen lernen wir, unsere Trauer zu verstecken oder gar zu leugnen. Wir erhalten keine oder nur für eine kurze Zeit Gelegenheit, unsere Gefühle des Schmerzes und des Zorns auszudrücken und über den Verlust zu sprechen. Wir vermeiden es, uns mit dem Tod zu beschäftigen. Viele scheuen sich sogar, ein Buch zum Thema Tod zu lesen. Wir umgehen es, uns mit dem Angehörigen über Sterben, seine Angst vor dem Tod, über seine Wünsche bezüglich seiner Bestattung, die Aufteilung des Erbes etc. zu unterhalten. Wir vermeiden es, uns mit einem todkranken Menschen über den Tod zu unterhalten, aus Angst, er könnte denken, wir würden nur auf seinen Tod warten, ihn schon aufgeben, oder aus Angst, dass er merken könnte, wie traurig und hilflos wir sind. Manche Menschen haben sogar die magische Vorstellung: „Wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, dann fordern wir ihn an.” Oder umgekehrt: „Wenn wir uns nicht damit beschäftigen, werden wir davon verschont.” Allenfalls die Kirche spricht über den Tod, aber wiederum nur mit dem Trost auf ein mögliches jenseitiges Leben. Werden wir mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert, schalten wir ein Beerdigungsinstitut ein, das uns die Formalitäten abnimmt. Der Tote wird, falls er zuhause gestorben ist, noch am gleichen Tag in die Leichenhalle gebracht. Viele todkranke Menschen werden in die Klinik abgeschoben, um das Leiden nicht mitansehen zu müssen. Der Einzige, der vielleicht das Thema Sterben anspricht, ist der Pfarrer, wenn er ein letztes Mal zum Kranken kommt. Das Beerdigungsinstitut übernimmt die Ausschmückung des Sarges, wäscht den toten Körper und zieht ihm das Leichenhemd über. Was bleibt ist der kurze Blick in den Sarg kurz vor der Beerdigung. Am Tage der Beerdigung zählt der am meisten, der am tapfersten war und keine Tränen vergossen hat. Eine Gärtnerei übernimmt die Grabpflege. An Festtagen geht man pflichtbewusst auf den Friedhof, „weil die Nachbarn sonst denken, dass man den Toten nicht geliebt hat”. Nach drei Monaten beginnen die ersten Angehörigen zu fragen: „Was, du bist immer noch nicht darüber hinweg. Du solltest jetzt an dich denken und wieder zu leben beginnen.” Nach einer Umfrage sind die meisten Menschen der Ansicht, dass man sich mit dem Verlust spätestens zwei Wochen nach dem Tod abgefunden haben sollte. Die katholische Kirche liest noch ein paar Messen zu Ehren des Toten, dann „sollte man die Trauer gepackt haben“. Nach einem Jahr schwarzer Kleidung beginnt der Trauernde wieder bunte Kleidung zu tragen.
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